Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
Vom Netzwerk:
dieses Gebäudeflügels.
    »Wie läuft’s denn so?« fragt er, und seine altmodischen falschen Zähne glänzen fröhlich im Dunkeln. Aus irgendeinem Grund läßt er sich keine Zahnknospen setzen. Sein rundes dunkles Gesicht ist von Alter und Lachfalten tief gezeichnet. Ich bin einen Augenblick von der Zuneigung zu ihm überwältigt, zu meinem einzigen Freund Sergeant Bush.
    »Wie immer, Sergeant Bush.« Ich lächle; das ist ein Ausdruck, der leicht mißverstanden werden kann. Sergeant Bush erwidert mein Lächeln. Ich vermute, daß er schon Schlimmeres gesehen hat.
    »Tja«, sagt er, während er seinen Waffengurt zurechtrückt, »bleib bloß hier stehen, während ich meine Runde mache, ja?« Er kichert über seinen kleinen Scherz und schlendert den Flur hinunter.
    Ich verehre Sergeant Bush mit seiner zu weiten Uniform und seiner altmodischen Prothese. Ich hocke mich auf mein Podest und genieße das Gefühl, mich unbeobachtet bewegen zu können. Ich hoffe, Sergeant Bush muß nicht für seine Freundlichkeit mir gegenüber büßen; allerdings kann ich mir nicht vorstellen, wie es jemand herausfinden sollte. Er ist nachts immer allein hier; sein Job ist eine Sinekure, ein Überbleibsel aus jener Zeit, als das Museum noch keine Festung war. Das Museum wird durch die Wälle und Verteidigungsanlagen draußen geschützt, so daß in diesen hallenden Gängen keine Wachen notwendig sind.
    Ich bin dankbar für die Gelegenheit, die Sergeant Bush mir gibt: Ich darf ohne Zuschauer lebendig sein, ohne Fragen und Bemerkungen, ohne ihre Blicke.
    Ich denke meine eigenen Gedanken, ich kratze mir die Zehen, ich singe sogar etwas: »… wenn den reifen Früchten Flügel wachsen, will ich zur Wiege meines Volkes wandern …« Ich singe ein Lied vom Heimkehren. Aber ich habe eine schlechte Gesangsstimme, eine der wenigen Unzulänglichkeiten bei Nacamas letztem und größtem Werk. Und doch liebe ich es, ungeschickt die alten Lieder meines Volkes zu brummen. Vielleicht ist das Fehlen einer schönen Stimme doch kein Irrtum. Große Kunst muß paradox sein; das sagen wenigstens manche Kritiker, wenn sie vor mir stehen. Die mutigeren oder zänkischeren Kritiker jedenfalls; die meisten aber, glaube ich, schalten mich aus, bevor sie Nacamas Philosophie oder die tiefere Bedeutung seines Werkes zu begreifen beginnen. Ich verstehe ihre Vorsicht, denn schließlich könnte ich ihnen widersprechen. Doch sie brauchen nicht zu befürchten, daß ich sie in der Öffentlichkeit bloßstelle. Meine Programmierung verbietet mir strikt jede öffentliche Selbstanalyse. Nacama glaubte, daß man ein Kunstwerk zerstört, wenn man es zu zerlegen versucht, und deshalb bin ich fugenlos glatt.
    Sergeant Bush schert sich einen Dreck um Kunst, wie er mir selbst gesagt hat. Er nimmt mich, wie ich bin. Wahrscheinlich glaubt er es einfach, zumindest nachts, wenn er mit mir allein ist; er nimmt einfach die Lüge hin, daß ich von einer anderen Welt gekommen wäre, von einer Welt mit lavendelfarbenen Sandstränden und trägen roten Meeren.
    Manchmal reden wir stundenlang, er über seinen nichtsnutzigen Enkel, ich über die Heimat. Die Erinnerungen scheinen so frisch, so real. Natürlich weiß ich, daß die Heimat, an die ich mich erinnere, nur in der fiebernden Phantasie von Paolo Nacama existierte.
    Sergeant Bush kehrt gerade von seiner Runde zurück. Er setzt sich schwer auf die niedrige Bank vor meinem Podest. Er zieht ein graues Taschentuch hervor und wischt sich die Stirn ab, die hart ist und glänzt wie ein Schildkrötenpanzer. »Das wird jede Nacht schlimmer, Curly.«
    Er nennt mich Curly; warum, das hat er mir nie erklärt. In Wirklichkeit heiße ich Klatu – Klatu der Schnelle.
    »Du solltest nicht so schwer arbeiten.« Ich will ihm mein Mitgefühl zeigen, doch er lacht.
    »Keine Sorge, Curly. Das ist der leichteste Job, den ich je hatte. Ich habe es mir einfach angewöhnt, mich zu beklagen.« Er zieht liebevoll eine flache, silberne Flasche aus der Hemdtasche und nimmt einen großen Schluck. »Das Zeug wird mich noch umbringen.« Er verkorkt die Flasche und steckt sie weg. »Ich würde dir auch gern einen Schluck anbieten, Curly. Du siehst aus, als könntest du einen vertragen.«
    »Deine Gesellschaft reicht mir völlig aus, Sergeant Bush.« Ich warte, bis er wieder das Wort ergreift. Meine Programmierung erlaubt es mir kaum, ein Gespräch zu beginnen. Sergeant Bush meint, daß er genau aus diesem Grund unsere Gespräche besonders genießt. Wenn er will, kann er mich

Weitere Kostenlose Bücher