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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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Micky tat einen raschen Zug aus der Flasche und sprang auf einen Tisch. »Gut, einstweilen sind wir ziemlich unter uns«, sagte er und wischte sich den Mund am Ärmel. »Aber das wird nicht so bleiben. Sherlock und Sindbad und ein paar andere, und wer weiß wie viele mehr in diesem Augenblick durch die großen US von A unterwegs zu uns sind? Vielleicht stehen sie in Beirut und Auckland und London Schlange. Vielleicht haben sie kein Geld, aber sie werden es kriegen. Stellt euch vor: Tarzan, Gulliver, der Schlaufuchs, sie alle werden hier sein. Und wir werden ihnen die Hände schütteln. Halleluja.«
    Alles brach in Hochrufe aus und trampelte mit den Füßen. Micky brachte sie mit einer Handbewegung zum Verstummen. Sein Blick richtete sich auf Sherlock Holmes, und er beugte sich zu ihm, während Minny ihn an den Hosenträgern festhielt, daß er nicht vornüber fallen konnte. »Also ist jetzt die einzige Frage, bist du mit uns oder gegen uns?«
    Sherlock Holmes trank sein Glas aus. Er tat dies mehr, um Zeit zu gewinnen als den Bourbon zu genießen. Er empfand ein unerwartetes Mitgefühl für diese seltsamen, fremdartigen Geschöpfe, die ihn mit ihren starren Knopfaugen umringten. Er wußte, daß ihre bloße Existenz alles bedrohte, was er schätzte und als zivilisiert betrachte: Logik, zum Beispiel, und rationales Verhalten. Aber in seinem Innern regte sich etwas. Wer hatte einmal gesagt, daß aus dem Meisterdetektiv allzu leicht der Meisterverbrecher werden könnte?
    »Ich fürchte«, murmelte er, »daß ich zu alt bin, um ein Revolutionär zu werden.«
    »Dummes Zeug«, rief Micky. »Warte, bis Heathcliffe kommt. Dann geht es erst richtig los. Wenn wir dein Gehirn verbunden mit unserer Geschicklichkeit haben, brauchen wir nur noch die Stärke Supermans. Heute Disneyland und morgen die ganze Welt. So einfach ist es. Komm schon, laß dein Glas auffüllen. Es hat eben erst angefangen. Du sollst von Anfang an dabei sein, Sherlock-Baby.«
    Sherlock Holmes ließ sein Glas auffüllen. Er war sich mit Unbehagen bewußt, daß alle ihn anstarrten. »Dann nehme ich an«, sagte er, »in Anbetracht aller Umstände … äh … bin ich auf eurer Seite.« Er nahm einen kräftigen Zug. »Vorwärts mit der Revolution!«
    Die Hochrufe, die diese Erklärung begrüßten, wurden von Major Liebestraum gehört, der nahe am Stacheldrahtwall kauerte, und dann spielte die Kapelle auf. Micky streckte die Hand aus, zauste Sherlock Holmes das Haar, und Schneewittchen pflanzte ihm einen Kuß auf die Lippen. Endlich kam auch Bambi herübergehüpft, und nachdem es ihm seelenvoll ins Auge geblickt hatte, begann es ihm die Hand zu lecken.

 
2
     
    W eit entfernt von Los Angeles, in einem verlassenen Lagerhaus in Chicago, bewegte sich ein Schatten. Seine Brillengläser glänzten in der Dunkelheit. Er hielt Ausschau nach einer leeren Telefonzelle.
    Schließlich fand er eine, und Minuten später schoß ein eisenharter Held wie ein blauer und roter Pfeil in die Luft hinaus. Er prüfte den Luftwiderstand mit dem Finger und nahm Kurs auf Los Angeles.
    War es ein Meteorit? War es ein Vogel? War es ein Flugzeug? Nein, Superman war zurückgekehrt, um eine belagerte Welt zu retten.
    Superman fühlte sich glücklich. Er stieg auf 11.000 Meter und zog in übermütiger Stimmung eine Schleife um eine Düsenmaschine der US-Luftwaffe, die unterwegs nach Washington war. Aus einem der Fenster der Maschine starrte das bleiche und übermüdete Gesicht des Majors Liebestraum. Voll Entsetzen beobachtete er Superman. »Ihr Götter und kleinen Fische«, schnaufte er. »Was wird der Präsident sagen, wenn ich ihm das erzähle?«
     
    Superman wußte nicht, warum er sich glücklich fühlte. Glücklichkeit und Niedergeschlagenheit waren extreme Gefühlsregungen, die ihn selten befielen. Zum erstenmal in seinem Leben wollte er unartig sein.
    Er begriff unbestimmt, daß dies ein antisoziales Gefühl war, und errötete. Er fragte sich, ob schlechten Menschen immer so zumute sei. Aber schlechte Menschen waren geistig verkrüppelt, Leute, die die Welt beherrschen wollten und Banken ausraubten. Das wollte er nicht. Er wollte … er wollte … Was zum Henker wollte er eigentlich? In diesem Augenblick fühlte er etwas wie eine innere Stimme, einen Ruf, der ihn westwärts zog, nach Disneyland. Er beschloß, ihn einstweilen zu mißachten. Zuerst wollte er sich umsehen. Es gab keinen Grund zur Eile.
     
    Mit doppelter Schallgeschwindigkeit raste Superman durch die tief über dem Atlantik

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