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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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Rest meines Aufenthaltes nicht mehr sehen, erst wieder kurz vor meiner Rückkehr. Das waren meine Anweisungen. Aber ruhelos begann ich an seinem Haus in der Rauhensteingasse herumzustreichen. Ich sah ihn an einem dreckigen Fenster im zweiten Stock und wie er bei meinem Anblick zurückfuhr. Das war seine Angst, noch nicht zum Grauen erstarrt: daß ich der Bote einer anderen Welt war und ihm die Nachricht von seinem Tod brachte. Das kam der Wahrheit so nahe, daß ich in einer plötzlichen Sehnsucht, die Macht dieses Bildes zu zerstören, die Treppen hinaufrannte und klopfte. Er antwortete schnell und verängstigt.
    »Was ist? Sie kommen wegen des Requiems? Ich habe zu tun, ich hatte noch keine Zeit …«
    »Nein, nein, ich wollte nur Guten Tag sagen. Darf ich eintreten?«
    Er zögerte einen Moment lang und zog dann die schwere Tür auf. »Störe ich?« Sein Schreibtisch war mit Papieren übersät.
    »Nein, wirklich nicht. Eine Oper.«
    »Die Zauberflöte?«
    »Ja. Woher wissen Sie …«
    »Das Titelblatt.«
    »Oh, natürlich. Ein lächerliches Stück, nur wegen des Geldes, für Schikaneder, wissen Sie. Aber er will es spätestens nächste Woche, und … und wenn ich es nicht umschreibe, will er nicht zahlen, aber er … er hat die erste Niederschrift und sagt, er zahlt nicht, wenn ich es nicht fertigschreibe, aber er wird es so oder so auf die Bühne bringen, ich habe nicht genug Zeit, ich habe nie genug Zeit, und jetzt, Constanze ist weg … ich schaff’s nicht, ich schaff’s einfach nicht!«
    Er fing an zu weinen. Eine ungewohnte Sympathie erfüllte mich: anders als alle, die ich kannte, anders als ich selbst, war er an der Kompliziertheit seines Schicksals unschuldig. Verlegen und in dem Wunsch, es ihm leichter zu machen, nahm ich ein paar Seiten von seinem Schreibtisch und fragte:
    »Kann ich Ihnen dabei helfen?«
    »Helfen? Entschuldigen Sie, ich wollte das nicht. Aber helfen? Sind Sie Musiker?«
    »Ich kenne Ihren Stil. Ich könnte … na ja, Stimmen schreiben, oder ein bißchen etwas einflicken da und dort. Als Beweis meiner Wertschätzung und damit Sie es fertigkriegen.«
    »Das ginge.«
    So gelangten die Entwürfe für einen Akt der Zauberflöte in meinen Besitz. Meine Arbeit auf diesen wunderbaren Seiten war eine Schulung. Ich verstand die Bemerkung eines Kollegen, daß Mozart zu leicht für Anfänger und zu schwer für Könner sei. Die Melodien waren gefällig und wendig, und ich konnte an einem Abend problemlos drei oder vier Begleitstimmen fertigschreiben, so wunderschön trugen die Melodien die Saat ihres Wachstums in sich. Oft merkte ich erst, wenn die Lampe flackerte, daß nicht erst 10 Minuten vergangen waren, sondern ich ein halbes Dutzend Seiten geschafft hatte und der Docht geschneuzt werden mußte. Ich fand, daß ich diese paar friedlichen Nächte verdient hatte.
    Aber ich war nicht frei. Tagsüber war mir bewußt, daß ich unter Toten wandelte, und nachts, nach der Musik, war mir bewußt, daß meine Toten noch nicht einmal geboren waren. Gesichter, die ich sah, erinnerten mich an Menschen, die ich kannte, und ich erntete feindselige Blicke. Zweimal hielt mich die Polizei an, und es kostete fünfzig Gulden, sie dazu zu bringen, über meine fehlenden Ausweispapiere hinwegzusehen. Scharlach grassierte in dem Sommer in Wien, und ich hatte Angst, daß meine Impfungen den Transfer nicht überstanden hatten. Ich hatte ein bedrohliches Gefühl nahen Unheils. Es war elend heiß in der Stadt. Es kam mir so vor, als ob ich keinen Herbst mehr erlebt hätte, seit ich mit neun Jahren New York verlassen hatte. Meine Sinne erinnerten sich an eine Brise kühler, stinkender Luft vom East River im Oktober und an das dürre Gras in dem winzigen Park zwischen Türmen aus Stein, in deren Fenstern sich der graue Himmel spiegelte. Ich spürte in mir die ersten Vorboten von Verlust und das bittere Wissen, daß niemand es schafft, so gut zu sein, wie es nötig wäre.
    Und ich schlief nicht gut. Träume voller Schrecken wurden mir wie Nägel ins Hirn gerammt. Sie ließen nicht einfach Depressionen zurück, sondern blieben scharf umrissen und gegenwärtig, bis eine neue Nacht sich über die Straßen senkte und ich in meine Unterkunft zurückkehrte.
    Die Toten bleiben nicht im Grab. Das bedeutet, daß sogar die Lebenden nur im Bewußtsein von anderen leben. So war meine Mutter mir Jahre nach ihrem Tod in meinen Träumen erschienen, anklagend, vorwurfsvoll, als ob mein Haß sie vorzeitig getötet und meine

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