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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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ermöglichen.«
    »Dafür ist es zu spät.«
    Ich blickte in sein gehetztes Gesicht und wußte; daß die Biographen unrecht hatten. Er starb nicht an Typhus. Er starb, weil er verbraucht war. Geld konnte ihn nicht retten. Er zog aus seiner Kunst oder aus seinem Leben keinen Trost. Er verdiente etwas Besseres, nicht weil er ein Genie war, nicht weil er unschuldig war, sondern weil er auch nach Täuschungen, Schmerz und Betrug weiter in gutem Glauben handelte. Noch auf dem Totenbett, im Delirium, würde er Anweisungen für die Beendigung des Requiems geben.
    Neugierig sah er mich an.
    »Du hast meinen Sohn, mein Franzerl erwähnt … Er ist vor einer knappen Woche in Baden geboren, ich bekam gerade erst Constanzes Brief. Woher wußtest du das?«
    »Ich … sowas spricht sich herum.«
    »Und du sagtest, ich hätte einen Witz über dich gemacht. Was meinst du damit?«
    »Es gibt in Amerika keine Musik«, sagte ich kurz.
    »Oh. Vielleicht noch nicht. Dein Land ist noch sehr jung.«
    Wütend schrie ich: »Mein Land ist zweihundertfünfzig Jahre alt!«
    Eine Art Frösteln strich über uns hinweg. Ich merkte, daß ich keine Kraft mehr hatte, ihn zu täuschen.
    »Wie meinst du das?«
    Also mußte ich ihm alles erzählen … Ich kam nicht darum herum.
    »Ich komme aus der Zukunft. Ich bin im Jahr 1984 in der Stadt New York geboren und wurde mit … mit einem Mechanismus hierhergesandt, um dich und dein Leben zu studieren. So meine ich das.«
    Er schluckte es. Ich bestellte mehr Wein, während er mich anstarrte.
    »Natürlich hätte ich dir das nicht erzählen dürfen. Ich bin verrückt. Ich wollte nicht eingreifen, ich wollte nur …« Aber ich wußte nicht, was ich gewollt hatte.
    »Aber hör zu«, fing ich an, und ich versuchte, mich selbst zu erklären, indem ich die Musik erklärte. Musik erklärte – ihm! Ich versuchte Worte zu finden, die nichts ausschlossen. Ich zitierte John Cage, »eine zutiefst zwecklose menschliche Tätigkeit«, aber das umfaßte so viel, daß es keine Bedeutung mehr hatte; ich sagte ihm, Musik sei die Vollendung von Zeit und Raum durch den menschlichen Willen. Ich erwähnte Beethovens Innenräume, die schweigenden Abläufe von Cage, die den Geist, wenn nicht die Seele, von indischen Morgen- und Abend-Ragas in sich trugen. Ich sprach von den Maschinen, die Komponisten und ganze Orchester ersetzen konnten, von den Klangskulpturen, die in Wüsten, auf Bergen und öffentlichen Plätzen tönten und genau auf Regen, Temperatur, Bewegung und Licht reagierten. Diese Instrumente schlossen die Zeit aus und machten den Begriff ›Vorstellung‹ bedeutungslos, denn sie vermittelten nicht Geist, nicht Seele oder Bewegung der menschlichen Hand oder Stimmklang, sondern sie froren die Musik zwischen den Transistoren ein, folgten nur dem Befehl von Lötkolben und Rechteckwelle. Und ich dachte an die Kirchenmusik, deren Melodien ohne Anmut nur Besessenheit ausstrahlten; all das war nur insofern die Vollendung von Zeit und Raum, wie ein Krebsgeschwulst vollendet ist: das schlicht unausweichliche. Also versuchte ich es noch einmal und sagte, daß zu Musik menschliches Handeln gehörte, aber dann fiel mir ein, daß für ihn schon die Musik in seinem Bewußtsein Musik war. Ich sagte, Musik sei ein Weg, das Chaos zu ordnen … und da verhedderte ich mich. Meine Stimme erstarb. Mir wurde klar, daß alle Kunst immer nur in dieser Absicht entstanden war. Wenn Kunst behauptete, die Zeit zu befreien, und verschiedene Zeiten in ihrer Zeit zurückließ, indem sie mit Erinnerung, Wiedererkennen, Anspielung, Wiederholung, Unterbrechung arbeitete, gab es jetzt keinen Bedarf mehr für Kunst, denn alle Zeiten waren verfügbar.
    Aber wie wir schweigend dasaßen, wurden Geschichte, Zeit und Kunst meinen Sinnen zugänglich. Ich lächelte fast, es war so schön, wie es mich aus dem Innersten bis an meine Haut durchdrang, wie eine zärtliche Berührung meines innersten Wesens.
    »Hör zu«, sagte ich.
    Die Luft war erfüllt von einem zufälligen Konzert aus Gesprächsfetzen, Pferdegetrappel, dem Klirren von Glas und Besteck.
    »Es ergibt eine Melodie, hörst du das?«
    »Ja. Manchmal denke ich – daß ich gar keine Musik mehr zu schreiben brauche. Sie ist schon in der Luft.«
    »Musik ist eine Art des Lauschens«, sagte ich. Das war es, was ich mein ganzes Leben lang hatte sagen wollen. Spalte den Stock, sagten die Gnostiker, und Gott ist da. Öffne die Stille – Musik. Ich schloß die Augen und sah plötzlich meinen Vater vor mir,

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