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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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der verächtlich schwieg. Wir sind an die Geschichte gebunden, Geschöpfe der Umstände, und spiegeln den Augenblick. Meine Worte konnten nicht erklären, was ich meinte, weil zu ihrer Bedeutung zweieinhalb Jahrhunderte Geschichte gehörten, die ich mit aller Beredsamkeit nicht überbrücken konnte. Und er war ebenfalls gebunden.
    »Das ist ja alles ganz interessant«, sagte Mozart. »Aber was heißt es für mich? Ich habe meine eigenen Probleme. Amerika, die Zukunft – beides ist unglaubhaft. Für mich bist du nur ein armer Irrer.«
    »Was? Du glaubst mir nicht?«
    Er stand auf. »Es ist angenehmer sich vorzustellen, daß du diese ›Zukunft‹ nur erfunden hast. Es klingt märchenhaft.«
    »Ist es aber nicht!« Wütend hielt ich ihn am Handgelenk fest. Er konnte nicht einfach abtun, was mich so viel gekostet hatte. In meinem Gürtel befand sich eine Kopie des Requiems, die ich in Kalifornien angefertigt hatte. Da ich sowieso schon alle Regeln verletzt hatte, holte ich sie heraus.
    »Hast du mit dem Requiem schon angefangen?«
    »Nein.«
    Ängstlich sah er mir zu, wie ich das Manuskript entfaltete.
     
    Die Notenlinien waren leer. Die Tinte hatte den Transfer nicht überstanden. Nur eine Spur, ein flüchtiger Eindruck von Schrift, als ob meine Schrift von einer mächtigen, aber wohltätigen Chemikalie weggeätzt worden wäre. Ich hatte nicht vermutet, daß sich Tinte in zwei Jahrhunderten so geändert haben würde. Er nahm die leeren Seiten und warf einen Blick darauf. Leise sang er:
    »Lacrimosa, dies illa, qua resurrexit ex favilla …«
    Ich hatte keine Worte mit abgeschrieben. Ich bezweifelte, daß er die Noten entziffern konnte. Nein, er erinnerte sich an etwas, das er noch nicht geschrieben hatte oder komponierte es beim Singen. Als die leeren Seiten in seiner Hand zitterten – ich hatte das Papier 2016 bei einer Versteigerung von Beethovens Notenpapier in Bonn gekauft, damit es garantiert die Passage überstehen würde, jetzt war es unnützer Tand – fiel mir ein, was ich mit sieben oder acht Jahren in der Lincoln-Zentralbibliothek zwischen meinen Stunden am Juilliard-Konservatorium über die Biographien von Komponisten gelesen hatte. Ich war erschüttert gewesen, wie unbarmherzig die Zeit alles auslöschte. Bachs Grab wurde nie gefunden; ein Gewitter empfing Beethovens Seele; und dieser traurige junge Mann würde mitten in einem nächtlichen Unwetter sterben und am 6. Dezember dieses Jahres in ein Armengrab kommen, seine wenigen Freunde von Regen und Schnee zurückgetrieben, bevor der Friedhof erreicht war – am Grab nur noch die Totengräber. Sogar seine Züge würden der Nachwelt verlorengehen und nur noch in stümperhaften Porträts überliefert werden – seine Totenmaske würde ein paar Jahre später herabfallen und zerbrechen. Wie ein Asket seinen Körper kasteit, um Gott näher zu kommen, wie ich jeden Gedanken und jede Handlung meinem schlechten Gewissen unterwarf, um irgendwie ein wenig persönliche Würde zu erreichen, so schien die Zeit alles spezifisch Menschliche bei jedem Künstler auslöschen zu wollen, als ob sie Mozarts Musik ohne Mozart haben könnte.
    »Kennst du mein weiteres Leben? Wann werde ich sterben? Werd ich das Werk fertigstellen?«
    Ich konnte nicht sprechen.
    »Ich weiß, daß ich nicht viel Zeit habe. Wieviel?«
    »Das steht nicht fest. Meine Gegenwart ändert die Dinge.«
    Er drehte an seinem leeren Glas. Schließlich sagte er: »Schick mich statt dessen.«
    »Ich verstehe dich nicht.«
    »Du sagst, deine Zeit sei dir feindlich. Meine mir auch. Bleib hier und laß mich an deiner Stelle zurückkehren.«
    »Aber das geht nicht, es gibt Regeln, das ist, als ob du die Tonart von E-Dur nach B modulieren wolltest, das kannst du nicht …«
    »Aber ich habe es getan, in einem Quartett. Es gibt immer einen Weg, wenn du wirklich willst und deine Kunst beherrschst.«
    »So einfach ist das hierbei nicht«, sagte ich bitter. Ich wollte ihn beleidigen, aber er merkte es gar nicht. – »Meine Zeit ist lebens- und kunstfeindlich; du … du würdest dort nicht überleben.«
    »Hier auch nicht.«
    Ich senkte den Blick. Eine Fliege war in meinem Weinglas gelandet, und ich sah müßig zu, wie sie um ihr Leben kämpfte. Durch ein Fenster fielen Sonnenstrahlen in das Glas, und die Anstrengungen der Fliege malten ein Tanzmuster auf den Tisch. Auch er sah zu.
    »Ich würde dich herausfischen«, sagte ich zu der Fliege, »aber du machst so schöne Muster. Du würdest wahrscheinlich lieber leben

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