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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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herunterheben konnte, aber bevor sie es tat, umarmte sie uns jedesmal von hinten, streichelte Rae, drückte sie fest an meinen Rücken, und dann berührten Marys Hände meine Brust.
    Wenn ich diese Hände nur beschreiben könnte! Nach all den Jahren sind ihre Hände immer noch wie damals. Wenn sie arbeitet, spüre ich, wie sie auf meinem Rücken flattern. Sie sind lang, schlank und künstlerisch. Sie sind von Natur aus weich wie der Bauch eines jungen Kaninchens, und wenn sie Rae und mich umschlang, dann hatte ich das Gefühl, daß wir drei uns allem, was auf der Welt geschah, stellen und damit fertig werden konnten.
    Aber jetzt ist das Dreieck zerbrochen und die Geometrie zerstört.
    An diesem Tag ging Rae also ins College und wurde von dem dunklen Druck der Bombe ausgelöscht, und Mary fuhr mich zur Arbeit. Mich, Paul Marder, das große Tier im Team. Einer der besten, hellsten Köpfe in der Industrie. Der unsere atomare Drohung stets propagierte, verbesserte und erweiterte, so daß wir oft scherzten: »Wir bemühen uns, nur das Beste zu senden.«
    Als wir beim Wächterhäuschen eintrafen, hielt ich bereits meinen Ausweis in der Hand, aber es war niemand da, der ihn in Empfang nahm. Hinter dem Tor tobte ein wildes Durcheinander von Menschen, die liefen, schrien, zu Boden fielen.
    Ich stieg aus dem Wagen und rannte zur Tür. Als ein Mann vorbeilief, den ich kannte, schrie ich ihm nach. Er drehte sich um, sein Blick war gehetzt, und auf seinen Lippen stand Schaum. »Die Raketen fliegen«, rief er, dann stürzte er wie von Sinnen davon.
    Ich sprang in den Wagen, schob Mary weg und trat auf das Gaspedal. Der Buick sprang gegen den Zaun und warf ihn um. Der Wagen schleuderte, stieß an die Ecke eines Gebäudes, und der Motor starb ab. Ich ergriff Mary bei der Hand, zog sie aus dem Wagen und lief mit ihr zu den großen Fahrstühlen. Wir erreichten den letzten gerade noch. Es waren noch weitere Menschen zu ihm unterwegs, doch die Tür ging zu, und der Lift fuhr hinunter. Ich höre noch heute ihre Fäuste gegen das Metall trommeln, als wir zu sinken begannen. Es war wie der rasche Herzschlag eines sterbenden Lebewesens.
    Der Fahrstuhl brachte uns also in die Unterwelt, und wir machten ihn dicht. Wir befanden uns in einer Stadt, die von einer fünf Meilen dicken Schicht geschützt wurde, und nicht nur als gewaltiges Büro und Laboratorium, sondern auch als absolut sicherer Bunker geplant worden war. Sie war unsere besondere Belohnung dafür, daß wir die Gifte des Krieges geschaffen hatten. Es gab Nahrungsmittel, Wasser, Medikamente, Filme, Bücher. Alles, was man will. Zweitausend Menschen konnten hundert Jahre lang hier überleben. Von den zweitausend, für die diese Stadt gedacht war, schafften es vielleicht elfhundert. Die anderen liefen nicht rasch genug vom Parkplatz und von den anderen Gebäuden hin, oder sie hatten sich verspätet oder sich krank gemeldet.
    Unter Umständen waren sie die Glücklicheren. Sie waren vielleicht im Schlaf gestorben. Oder während sie am Morgen gerade noch schnell mal ihre Frau vögelten. Oder während der letzten, genüßlichen Tasse Kaffee.
    Denn, Tagebuch, die Unterwelt war kein Paradies. Es kam sehr bald zu Selbstmordepidemien. Ich dachte selbst von Zeit zu Zeit an diese Möglichkeit. Die Menschen schnitten sich die Kehle durch, tranken Säuren, nahmen Pillen. Wenn wir am Morgen aus unserem Schlafraum kamen, war es nicht ungewöhnlich, daß die Menschen wie reife Früchte an Rohren und Sparren baumelten.
    Außerdem gab es auch noch die Morde. Für die meisten war eine verrückte Gruppe verantwortlich, die in den tiefer liegenden Räumen hauste und sich ›Die Scheißgesichter‹ nannte. Von Zeit zu Zeit beschmierten sie sich mit Kot, liefen Amok und erschlugen Männer, Frauen und in der Unterwelt geborene Kinder. Angeblich aßen sie Menschenfleisch.
    Wir besaßen eine Art Polizei, aber sie nützte nicht viel. Sie verfügte kaum über Autorität. Schlimmer war, daß wir uns alle für Opfer hielten, die dieses Schicksal verdient hatten. Mit Ausnahme von Mary hatten wir alle dazu beigetragen, daß die Welt in die Luft flog.
    Mary begann mich zu hassen. Sie war zu dem Schluß gelangt, daß ich Rae getötet hatte. Es war eine Erkenntnis, die in ihr wuchs wie ein kleines Rinnsal, das stetig anschwillt, bis es zu einer Sturzflut des Hasses wird. Sie sprach selten mit mir. Sie nagelte ein Bild von Rae an die Wand und betrachtete es beinahe unablässig.
    Oben war sie eine Künstlerin gewesen

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