Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
Vom Netzwerk:
und nahm nun diese Beschäftigung wieder auf. Sie bastelte sich einen Satz Werkzeuge, stellte Farben her und wurde Tätowiererin. Jeder kam zu ihr, um eine Zeichnung zu bekommen. Und obwohl alle verschieden waren, schienen sie alle eines zu sagen: Ich habe es vermasselt. Ich habe die Welt in die Luft gejagt. Brandmarke mich!
    Tag für Tag arbeitete sie an ihren Tätowierungen, hatte immer weniger mit mir zu tun und vertiefte sich immer mehr in diese Arbeit, bis sie mit Haut und Nadeln genauso geschickt umging wie in der Oberwelt mit Leinwand und Pinseln. Als wir eines Nachts auf unseren getrennten Pritschen lagen und so taten, als schliefen wir, sagte sie plötzlich zu mir: »Ich möchte nur, daß du weißt, wie sehr ich dich hasse.«
    »Ich weiß«, antwortete ich.
    »Du hast Rae getötet.«
    »Ich weiß.«
    »Sag, daß du sie getötet hast, du Schwein. Sag es!«
    »Ich habe sie getötet«, sagte ich, und es war mir ernst damit.
    Am nächsten Tag verlangte ich ebenfalls eine Tätowierung. Ich erzählte ihr von dem Traum, der mich jede Nacht heimsuchte. Es war dunkel, und aus der Dunkelheit kamen wirbelnde, leuchtende Wolken, die zu einem Pilz verschmolzen. Aus ihm trat die torpedoförmige Bombe hervor, deren Nase zum Himmel gerichtet war und die auf lächerlich dünnen Cartoonbeinchen daherstolzierte.
    Auf die Bombe war ein Gesicht gemalt – das meine. Dann wechselte plötzlich der Schauplatz des Traums, und ich blickte mit den Augen des gemalten Gesichts in die Welt. Vor mir befand sich meine Tochter. Nackt. Sie lag auf dem Boden. Ihre Beine waren weit gespreizt. Ihr Geschlechtsteil glänzte wie ein nasser Cañon.
    Ich/die Bombe stürzte in sie, zog die lächerlichen Beine hinter mir her, und sie schrie. Ich hörte ihren Schrei hallen, während ich durch ihren Bauch tauchte, oben auf ihrem Kopf herauskam und dann einen tödlichen Orgasmus erreichte. Der Traum endete, wo er begonnen hatte. Eine pilzförmige Wolke. Dunkelheit.
    Als ich Mary den Traum erzählte und sie bat, ihn mit ihrer Kunst zu deuten, antwortete sie: »Mach deinen Rücken frei«, und so begann die Zeichnung. Jedesmal zwei Zentimeter Arbeit – schmerzhafte Zentimeter. Dafür sorgte sie.
    Ich beschwerte mich kein einziges Mal. Sie setzte die Nadeln so energisch an und stach so tief ins Fleisch, wie sie konnte, und obwohl ich manchmal stöhnte oder aufschrie, bat ich sie nie, aufzuhören. Ich spürte, wie die zarten Hände meinen Rücken berührten und liebte es. Die Nadeln. Die Hände. Die Nadeln. Die Hände.
    Wenn das so lustig war, fragst du, warum bin ich dann hinaufgegangen?
    Du stellst so bohrende Fragen, Tagebuch. Das tust du tatsächlich, und ich bin froh, daß du diese Frage gestellt hast. Wenn ich es dir erzähle, wird es hoffentlich wie ein Abführmittel wirken. Wenn ich die ganze Scheiße rauslasse, werde ich vielleicht morgen aufwachen und mich wesentlich besser fühlen.
    Klar. Und es wird auch der Beginn einer neuen Pepsi-Generation sein. Das Ganze wird ein böser Traum gewesen sein. Der Wecker wird klingeln, ich werde aufstehen, eine Schale Reisflocken essen und meine Krawatte binden.
    Okay, Tagebuch. Die Antwort. Etwa zwanzig Jahre, nachdem wir hinuntergegangen waren, fand eine Handvoll von uns, daß es oben nicht schlimmer sein konnte als unten. Wir beschlossen nachzusehen. Ganz einfach. Mary und ich sprachen sogar ein wenig miteinander. Wir klammerten uns beide an die verrückte Vorstellung, daß Rae vielleicht überlebt hatte. Sie mußte jetzt achtunddreißig sein. Wir hatten uns unter Umständen grundlos wie Ungeziefer in der Unterwelt versteckt. Vielleicht gab es oben eine tapfere, neue Welt.
    Ich weiß noch, daß ich all das dachte, Tagebuch, und es sogar halb glaubte.
    Wir rüsteten zwei Zwanzigmeterfahrzeuge aus, die in der Unterwelt als Transportmittel benutzt wurden, gaben die halb vergessenen Codes ein, die die Fahrstühle öffneten, und fuhren mit den Fahrzeugen hinein. Die Laser der Fahrstühle zerschnitten die Trümmer vor ihnen, und wir befanden uns bald in der Oberwelt. Die Türen gingen auf, und wir erblickten durch graugrüne Wolken gefiltertes Sonnenlicht und eine wüstenartige Landschaft. Ich wußte sofort, daß es jenseits des Horizonts keine tapfere neue Welt gab. Die Welt war brennend zur Hölle gefahren, und von Millionen Jahren menschlicher Entwicklung waren nur ein paar jämmerliche Menschen übrig geblieben, die unten wie Würmer lebten und ein paar weitere, die oben ebenfalls wie Würmer herumkrochen.
    Wir

Weitere Kostenlose Bücher