Die wahre Lehre - nach Mickymaus
ich natürlich keinen Sparringpartner, deshalb muß das System genügen.
Natürlich ist Mary da, aber bei ihr beschränkt sich das Sparring auf Wortgefechte. Und in letzter Zeit kommt es nicht einmal mehr dazu. Ich sehne mich danach, daß sie mich einen Schweinehund nennt. Irgend etwas sagt. Ihr Haß gegen mich ist jetzt zur Vollkommenheit gereift, und sie hält es nicht mehr für notwendig zu sprechen. Die scharfen Linien um ihre Augen und ihren Mund, die emotionelle Hitze, die ihr Körper wie eine entsetzliche Fieberblase ausstrahlt, die ein Opfer sucht, genügt ihr. Sie lebt nur für den Augenblick, wenn sie (die Fieberblase) sich mit ihren Nadeln, der Tinte und den Fäden an mich heften kann. Sie lebt nur für die Zeichnung auf meinem Rücken.
Mary fügt jede Nacht ein neues Detail hinzu, und ich genieße den Schmerz. Die Tätowierung stellt eine große, blaue, pilzförmige Wolke dar, und in die Wolke hat sie wie einen Geist das Gesicht unserer Tochter Rae hineingezeichnet. Ihre Lippen sind fest zusammengepreßt, ihre Augen geschlossen, und tiefe Stiche täuschen ihre Wimpern vor. Wenn ich mich rasch und heftig bewege, platzen die Stiche manchmal auf, und Rae weint blutige Tränen.
Das ist einer der Gründe für die asiatischen Kampfsportarten. Wenn ich hart trainiere, reißen die Stiche leichter auf, so daß meine Tochter weinen kann. Tränen sind das einzige, was ich ihr zu bieten habe.
Jede Nacht entblöße ich ungeduldig meinen Rücken für Mary und ihre Nadeln. Sie sticht tief, und ich stöhne vor Schmerz, während sie vor Entzücken und Haß stöhnt. Sie fügt dem Bild weitere Farben hinzu; arbeitet mit brutaler Präzision, um Raes Gesicht deutlicher hervorzuheben. Nach zehn Minuten ist sie müde und will nicht mehr weiterarbeiten. Sie legt die Werkzeuge beiseite, und ich gehe zum großen Spiegel an der Wand. Die Laterne auf dem Regal flackert wie eine Kürbislaterne bei starkem Wind, aber das Licht reicht aus, damit ich über meine Schulter blicken und die Tätowierung begutachten kann. Sie ist schön. Sie wird jede Nacht besser, weil Raes Gesicht immer deutlicher hervortritt.
Rae
Rae. Mein Gott, kannst du mir vergeben, mein Liebling?
Doch obwohl der Schmerz der Nadeln wunderbar und reinigend wirkt, genügt er nicht. Deshalb wirble, trete und schlage ich auf dem Laufsteg am Leuchtturm um mich und spüre, wie Raes rote Tränen mir über den Rücken fließen und sich im Gürtelband meiner fleckigen Leinenhose sammeln.
Wenn mir die Luft ausgeht und ich nicht mehr schlagen und treten kann, gehe ich ans Geländer und rufe in die Dunkelheit hinaus: »Hungrig?«
Als Antwort auf meine Stimme steigt ein Chor von Seufzern empor und begrüßt mich.
Später liege ich auf meiner Pritsche, habe die Hände hinter dem Kopf verschränkt, starre zur Decke und versuche, mir etwas einfallen zu lassen, das würdig ist, in dir festgehalten zu werden, mein Tagebuch. Es gibt so selten etwas. Nichts ist wirklich die Mühe wert.
Wenn ich genug habe, lege ich mich auf die Seite und betrachte das große Licht, das einst den Schiffen leuchtete, aber jetzt für immer erloschen ist. Dann drehe ich mich auf die andere Seite und blicke zu meiner Frau hinüber, die in ihrer Koje liegt und mir ihren nackten Arsch zuwendet. Ich versuche, mich daran zu erinnern, wie es war, wenn wir miteinander geschlafen haben, aber das ist schwierig. Ich erinnere mich nur daran, daß es mir fehlt. Ich starre lange den Hintern meiner Frau an, als wäre er ein gemeiner Mund, der sich jeden Augenblick öffnen und mir die Zähne zeigen wird. Dann drehe ich mich wieder auf den Rücken, starre zur Decke hinauf und mache so bis Tagesanbruch weiter.
Am Morgen begrüße ich die Blumen, deren leuchtend rote und gelbe Blüten aus den Köpfen vor langem gestorbener Körper hervorbrechen, die nicht verfaulen wollen. Die Blumen öffnen sich weit und enthüllen ihre kleinen, schwarzen Gehirne und ihre gefiederten Fühler; sie strecken ihre Blüten in die Höhe und stöhnen. Das bereitet mir wildes Vergnügen. Einen verrückten Augenblick lang fühle ich mich wie ein Rocksänger vor seinem Publikum, das ihn mit leuchtenden Augen anstarrt.
Wenn ich von dem Spiel genug habe, hole ich den Feldstecher, Tagebuch, und suche mit ihm die Ebene im Osten ab, als erwarte ich, daß dort eine Stadt materialisiert. Das Interessanteste, das ich auf dieser Ebene erblickt habe, war eine Herde von großen Eidechsen, die nach Norden donnerte. Einen Augenblick lang dachte ich
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