Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
Vom Netzwerk:
hatte.
    Das Experiment drängte alle anderen Interessen Knox’ in den Hintergrund. Das Zeichenbrett wurde irgendwo verstaut und vergessen. Den größten Teil seiner freien Zeit verbrachte der alte Mann in der Bücherei, in der er seine Erinnerungen mit Hilfe alter Zeitungsberichte wiederauffrischte. Oder er lag im Bett und konzentrierte sich ganz auf seine Vergangenheit, in der Hoffnung, die eidetische Reminiszenz-Reaktion auszulösen und kontrollieren zu können. Das energetische Niveau des Stimulators wurde immer mehr gesenkt – bald genügte nur ein geringer elektrischer Impuls, um das Bewußtsein Knox’ in der Zeit zurückkehren zu lassen. Der ganze Vorgang erschien ihm wie eine zweckbestimmte Wiedergeburt, und er war davon überzeugt, seinem längst grau gewordenen Selbstwertgefühl wieder Farbe geben zu können, wenn es ihm gelang, die letzte Barriere zu überwinden.
    Selbst die halbe Arbeitsschicht für die Instandhaltungseinheit erschien ihm erträglicher. Zwar setzte ihm Madeline noch immer zu, aber ihre Verachtung machte ihm nun nichts mehr aus. Er fand sich mit seinem Leben in den Türmen ab – und gleichzeitig ignorierte er es weitgehend.
    Aber obgleich ihm die Erinnerungen ein gewisses Glücksgefühl vermittelten, empfand er auch ein dumpfes Unbehagen. Zum erstenmal in seinem Leben wußte Knox nicht mehr so recht, wer er war oder sein sollte. Die Person, die jene Erinnerungen durchlebte, unterschied sich zweifellos von dem tatkräftigen und zufriedenen Mann, der sie geschaffen hatte. Der Erinnerer schenkte jenen Dingen keine Beachtung, die für den jüngeren Knox eine große Rolle gespielt hatten, und statt dessen genoß er Farben und Formen, Launen und Spielereien, Gefühle, auf die sein früheres Ich gar nicht in dem Maße aufmerksam geworden war. Der Erinnerer lief nicht in die Falle, von der aus nur ein Weg in die Zukunft führte – ein Weg, der den jungen Architekten in einen verbitterten alten Hausmeister verwandelt hatte.
     
    Das monotone Summen des Staubsaugers erinnerte Knox an Somatos Requiem für einen Planeten. Er zog einen verchromten Kunststoffstuhl vom Konferenztisch fort, und mit erfahrenem Geschick ließ er die Bürsten des Gerätes viermal über den Boden unter dem Tisch hinweggleiten. Jener finster wirkende kleine Komponist war Bens Musiklehrer gewesen, bis ihnen aufgrund der besonderen Umstände keine andere Wahl blieb, als in die Türme umzuziehen. Knox hatte Somato nie gemocht. Er empfand seinen defätistischen Pessimismus als langweilig und ermüdend.
    Die Schnur spannte sich. Doch anstatt den Staubsauger an eine andere Steckdose anzuschließen, bewegte er ihn noch einmal in einem weiten Bogen über den Boden und kehrte dann zurück. Somato war während einer der Massenselbstmord-Wellen des Jahres 1995 gestorben. Ben hatte die Todesanzeige in einer der letzten Ausgaben der Times gelesen. Knox entsann sich auch, angesichts des Todes Somatos tief in seinem Innern so etwas wie schuldbewußte Befriedigung verspürt zu haben. Er sah sich in seiner Einschätzung des Komponisten bestätigt. Seine Sturheit war nichts weiter als geistige Tünche gewesen; letztendlich hatte er den leichtesten Ausweg gewählt.
    Der alte Mann überlegte, ob sich in der Bibliothek vielleicht eine Aufzeichnung des Requiem befand. Wenn er sie hörte, mochte er dazu in der Lage sein, seine Erinnerungen nach Belieben auszulösen …
    Eine Hand berührte ihn an der Schulter, und überrascht zuckte er zusammen und drehte sich um. Madeline musterte ihn grimmig und bedeutete ihm, den Staubsauger auszuschalten. Die jähe Stille schien ebenso in seinen Ohren zu dröhnen wie die monotone Einleitungssequenz des Requiem.
    »Setzen Sie sich«, sagte Madeline ruhig.
    Sie nahmen am Konferenztisch Platz, an dem die Mitglieder des Exekutivkomitees der Türme zusammenkamen. In seinem schmutzigen Arbeitskittel fühlte sich Knox ein wenig unsicher an diesem Ort.
    »Morris, es gibt keine Möglichkeit, in dieser Hinsicht höflich zu sein, und deshalb sage ich es frei heraus: Sie werden das Experiment aufgeben.«
    Der alte Mann strich mit den Fingern über das durchsichtige Plexiglas des Tisches. Der Schweiß hinterließ kleine Flecke, die er mit dem Ärmel fortwischte. Er gab keine Antwort.

    »Es ist mir ein Rätsel, wieso Sie keine Einsicht zeigen – ich weiß einfach nicht, was mit Ihnen los ist. Wir alle – Ihre Freunde von der Einheit – machen uns Sorgen um Sie. Sie sind nicht mehr bei der Sache. Ihre Arbeit ist

Weitere Kostenlose Bücher