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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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schlampig … und unnütz.« Sie begegnete seinem Blick, und in ihren Augen blitzte es vorwurfsvoll. Das verstärkte das Unbehagen des alten Mannes, denn er wußte, daß Madeline, was ihre Perspektive anging, recht hatte. »Kopf hoch, Morris. Wenn Sie wieder zu Vernunft kommen, kann ich Ihnen helfen.« Ihr Gesichtsausdruck wirkte jetzt nicht mehr ganz so hart. Und er erinnerte sich daran, sie schon einmal auf diese Weise gesehen zu haben, damals, als sie befördert worden war und seinen Posten übernommen hatte. Ein deutliches Bild formte sich vor seinem inneren Auge: eine Madeline, die ihm selbst die Mitteilung machte und ihn dabei so anblickte, als wolle sie sich für die Art und Weise entschuldigen, wie das Leben mit ihm umsprang. Meine Freunde, dachte Knox sehnsüchtig. Sie ist die letzte von ihnen.
    »Meine Güte, Sie hören mir nicht einmal richtig zu!«
    »Was? O doch, bestimmt. Aber ich kann noch nicht aufhören. Zuerst muß mir da etwas gelingen.«
    »Es ist Ihnen bereits etwas gelungen – vorzeitig alt zu werden.«
    »Sie haben kein Recht, mir so etwas zu sagen. Von allen Bürgern in den Türmen haben gerade Sie kein Recht dazu.«
    Das Gesicht Madelines lief rot an, und sie erwiderte mit erzwungener Ruhe: »Ich möchte Ihnen nur helfen. Sie sind zu alt, um die Pflichten zweier Jobs wahrzunehmen. Ich kann dafür sorgen, daß man sich im Heim um Sie kümmert. Für Cheddi Jain haben Sie nur als Versuchskaninchen Bedeutung. Er wird Sie benutzen und einfach im Stich lassen, wenn er Sie nicht mehr braucht.«
    »Aber das, womit ich mich beschäftige, ist sehr wichtig. Ich habe soviel versäumt, und jetzt … ja, jetzt bin ich alt. Das ist der Grund. Ich werde die Zeit, die mir noch bleibt, in etwas Bedeutsameres als die Reinigung von Toiletten investieren.«
    Madeline ließ ihren Stuhl langsam vom Tisch fortrollen. Sie sprach mit gesenktem Kopf, aber Knox konnte sie problemlos verstehen. Die Kühle in ihrer Stimme bewirkte dumpfen Schmerz in seinem Innern. »Dann bringen Sie sich meinetwegen um. Allerdings nicht als Mitglied meiner Einheit. Packen Sie Ihre Sachen weg und verschwinden Sie! Sie sind gefeuert!«
    Madeline stand auf und schritt rasch fort, ohne sich noch einmal umzusehen.
    Ziellos schlurfte Knox durch die Korridore von Turm II. Er verspürte nicht das Verlangen, in seine Separatnische zurückzukehren, zumindest jetzt noch nicht. Die Gänge waren voller Menschen. Sie gingen mit weit ausholenden Schritten an ihm vorbei, lasen Folien, blickten auf die Wanduhren und diskutierten ihre Arbeit – und ihr Verhalten offenbarte dabei allgemeine Zweckhaftigkeit. Aber wohin sind sie unterwegs? dachte Knox. Wissen sie das wirklich? Er fühlte sich versucht, einen der vielen Bürger danach zu fragen, fürchtete sich jedoch vor der Antwort.
    Nach einer Weile blieb der alte Mann stehen und sah sich um. Er begriff, daß es nicht einen einzigen Menschen auf der ganzen Welt gab, der sich darum scherte, wohin er ging und wann er sein Ziel erreichte. Sogar ihm selbst war das gleichgültig.
    Er schauderte und löste die eidetische Reminiszenz-Reaktion aus.
    Er war sieben Jahre alt und mit seinen Großeltern zum Strand gefahren. Er lief über den heißen und elfenbeinfarbenen Sand. Seine Füße brannten. Wellen brachen. Das Wasser spülte heran, und am äußersten Rand hinterließ es einen dünnen Streifen Schaumes. Er trat darauf zu und blieb abrupt stehen. An dieser Stelle war der Sand kühl und hatte die Farbe von Großvaters Haut.
    »Können Sie mich verstehen?«
    »Was ist denn los?«
    »Ich glaube, er arbeitet für Bianchi.«
    Die Stimmen vermischten sich mit dem Rauschen des Meeres, und die salzige Brise trug sie fort. Der siebenjährige Knox beobachtete, wie Wolken lautlos über den Himmel zogen.
    »Morris, ich bin’s. O mein Gott! Bringt ihn weg von hier. Und sagt Jain Bescheid, verdammt!«
    Eine Welle gurgelte über seine Füße hinweg, und kurz darauf floß das Wasser wieder zurück und spülte ihm Sand zwischen die Zehen. Es kitzelte. Und er fragte sich, warum es Leute gab, die diesen herrlichen Sommertag nicht am Meer verbringen wollten.
     
    Viel später kehrte Knox in die Türme zurück, und dort fiel sein Blick auf eine grüne Wand mit Dutzenden von braunen Flecken. Er rollte sich auf die andere Seite und stellte fest, daß er sich in einem großen Zimmer befand. Das verwirrte ihn zunächst, bis er schließlich begriff, daß man ihn ins geriatrische Heim überwiesen hatte.
    Zum erstenmal seit vielen

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