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Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Die wahre Lehre - nach Mickymaus

Titel: Die wahre Lehre - nach Mickymaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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bewunderte sein erstes Gebäude. Er berührte einen dunklen Fleck, der sich dort an einer Wand zeigte, wo der entsprechende Stein die Feuchtigkeit des Regens aufgenommen hatte. Er fühlte sich kalt und hart und rauh an – real und wirklich. In diesem Augenblick war das Gebäude keine unüberschaubare Planskizze mehr, sondern ein dauerhafter Teil der Welt. Der einjährige Bau reduzierte sich auf eine Sekunde in der Ewigkeit, und es erstaunte Knox festzustellen, daß seine Ideen und Vorstellungen konkreten Niederschlag in Stein und Beton gefunden hatten. Wo sich seiner Entscheidung gemäß eine Wand hätte befinden sollen, existierte auch eine. Ein Fenster in der Flanke dort droben? Ein Strich im Plan genügte – und schon war es da. Und wenn Carr nicht auf der lächerlichen Abdeckung der Belüftungsschlitze bestanden hätte, die nun wie Warzen aus der Decke ragten, so wäre dieses Haus ein Kunstwerk gewesen. Trotzdem war Knox sehr zufrieden mit seinem Werk und sah sich stolz um.
    … Er erreichte den dritten Platz. Plötzlich schienen um ihn herum alle anderen Geräusche zu verklingen, und er hörte nur noch das rasche Pochen, das seine Laufschuhe auf dem Untergrund der Permabahn verursachten. Selbst das rhythmische Zischen seines Atems wurde leise. Schweiß tropfte ihm von der Stirn und brannte in den Augen. Es war, als bestünden seine Beine aus Blei – und dann hatte er die zweite Position errungen. In der letzten Kurve entdeckte er eine Kraftreserve in sich, von deren Existenz er bisher überhaupt nichts geahnt hatte, und es schien ein Feuer in ihm zu brennen, dessen Flammen aus Schmerz, Wut und Entschlossenheit bestanden. Wie ein Stein, den jemand zu Boden schmettern wollte, näherte er sich der Ziellinie. Die anfeuernden Rufe seiner Teamgefährten waren ebenso dumpf wie das Rauschen in einer Muschel. Er sah die Ziellinie direkt vor sich, und er warf sich ihr entgegen. Unmittelbar hinter dem Gewinner taumelte er in die sich ihm entgegenstreckenden Arme.
    … Er hörte das Klopfen, reagierte jedoch gar nicht darauf. Er war zu beschäftigt. Die Tür öffnete sich, und sein Sohn trat ins Büro. Ben lächelte – und es war ein so breites Lächeln, daß es sein schmales Gesicht fast in zwei Hälften teilte. Knox war erstaunt, denn bisher hatte er angenommen, daß die Behandlungen seinem Sohn allen Grund zur Freude nahmen. Dann sah er die junge Frau. Sie schob sich an Ben vorbei ins Zimmer, den Kopf ein wenig nach vorn geneigt, so als wolle sie sich für irgend etwas entschuldigen. Im Vergleich mit Ben, der wie ein vierzigjähriger Mann wirkte, obgleich er gerade erst seinen einundzwanzigsten Geburtstag hinter sich hatte, wirkte sie in ihrer einfachen Studentenuniform und aufgrund ihrer weichen und glatten Züge wie ein Kind. Das silberblonde Haar reichte ihr bis zu den Schultern. Sein Sohn legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. Erschrocken begriff Knox, was sich nun anbahnte. Stolz schwang in der Stimme Bens mit, als er sagte: »Pa, darf ich dir Madeline Bianchi vorstellen? Wir wollen heiraten.«
    … Martin Carr paffte an seiner Zigarre und beobachtete Knox gutmütig, während der sein Steak zerschnitt. Der beißende Rauch beeinträchtigte den Geschmack des Fleisches, und Knox legte das Besteck beiseite. Carr teilte ihm mit, daß man ihn zum Gesellschafter der Firma machen wolle. Er sprach diese Worte recht feierlich aus, aber Knox reagierte eher ungestüm darauf. Er fühlte sich wie ein Ballon, der so stark aufgebläht war, daß er jederzeit platzen konnte. Zitternd griff er nach der Hand Carrs und schüttelte sie heftig. Carr verzog das Gesicht und zog den Arm zurück. Daraufhin lachten sie beide. Endlich bin ich jemand, dachte Knox. Jetzt steht meiner Karriere nichts mehr im Wege.
     
    Je länger das Experiment dauerte, desto mehr freute sich der alte Mann auf die Erlebnisse im Computersessel. Er hatte dabei über einige körperliche Beschwerden zu klagen, und manchmal erschöpften und verwirrten ihn die Erinnerungen und hinterließen in ihm eine gewisse Orientierungslosigkeit. Dann und wann empfand er einen dumpfen und pochenden Schmerz im Beinstumpf, und ab und zu glaubte er ein Prickeln in dem Fuß zu spüren, der ihm längst amputiert worden war.
    Nach einer Weile genoß er alle seine Erinnerungen, selbst die unangenehmen, denn im Remineszenzenkummer entdeckte er echte und reale Empfindungen, die mit ihrer Intensität über alle anderen Gefühle hinausgingen, die er jemals gehabt

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