Die wahre Lehre - nach Mickymaus
seine Separatnische zurückgekehrt und hätte gelesen oder an seinem Zeichenbrett gearbeitet – einem Relikt aus glücklicheren Zeiten. Seit dem Tode Marthas beschäftigte er sich in seiner Freizeit damit, ebenso wundervolle wie nutzlose Gebäude zu entwerfen, um der Langeweile zu entrinnen. Doch inzwischen war die Nische nicht mehr die Oase des Friedens und der Besinnung wie einst. Trotzdem begab er sich in den ersten Turm. Er hatte die Mahlzeit zum Ende der letzten Schicht verpaßt, und obgleich er keinen Appetit verspürte, wünschte er sich einen Ort, an dem er allein sein konnte.
Er saß in einer Ecke der Mensa und stocherte in dem Salat herum, der ihm nicht schmeckte, als Madeline hereinkam. In dem fast völlig leeren Saal wurde sie sofort auf ihn aufmerksam und schlenderte an seinen Tisch heran.
»Ich habe nach Ihnen gesucht, Knox. Wir sollten uns über Ihren Umzug unterhalten.«
Knox stopfte sich ein Salatblatt in den Mund. Madeline setzte sich. Sie beobachteten sich schweigend, während er ruhig kaute.
»Kommen Sie schon, Knox. Spielen Sie nicht den Beleidigten.«
Er spießte ein zweites Salatblatt auf. Madeline hielt seinen Arm fest.
»Ich sagte doch, daß es mir leid tut.«
»Das stimmt, ja. Sie hatten Ihre Pflicht zu erfüllen.« Knox streifte ihre Hand ab.
»Außerdem«, meinte Madeline und verzog kurz das Gesicht, »ist es im Heim gar nicht so schlimm. Nachdem Sie mich verließen, bin ich runtergegangen und habe mit Torres gesprochen, dem Leiter. Er versicherte mir, Sie könnten dort einige Privilegien genießen, da Sie nach wie vor arbeiten. Er hat sogar einen Platz für Ihr Zeichenbrett gefunden.«
»Ich habe nicht die Absicht, ins Heim zu wechseln, Madeline.«
»Wie bitte? Es bleibt Ihnen doch gar keine Wahl.«
»Ich habe mich an Cheddi Jain gewandt, mich als Freiwilliger gemeldet.«
Madeline musterte ihn verblüfft. »Wieso denn? Sie wissen doch, was man sich so sagt.«
»Machen Sie sich keine Sorgen«, erwiderte Knox trocken. »Ich werde mit meiner Arbeit nicht in Verzug geraten.«
»Bestimmt nicht, da bin ich ganz sicher, Knox. Tut mir leid; ich wußte nicht, daß Sie das alles so ernst nehmen. Ich sollte jetzt wohl besser gehen.«
»Ja, das sollten Sie.«
Sie stand rasch auf, so als sei ihr der Stuhl plötzlich zu heiß geworden. »Sie sind ein undankbarer alter Kauz, wissen Sie das? Es ist mir egal, ob Sie mir Vorwürfe machen oder nicht. Warum sollte ich mich darum scheren? Und es kümmert mich auch nicht, wenn Sie verletzt werden oder überschnappen. Wenn das geschieht, schmeiße ich Sie sofort aus der Einheit. Klar? Das wollten Sie doch hören, oder?« Sie stieß den Stuhl so heftig an den Tisch zurück, daß der Synthosalat durch die Erschütterung vom Teller fiel. Das schmierige Durcheinander auf der Tischfläche machte die Frau noch zorniger, und ohne ein weiteres Wort marschierte sie davon.
Knox strich die Blätter mit der Hand aufs Tablett zurück, trug es zum Abfallvertilger und schob es durch den Schlitz. Inzwischen dauerte es nicht mehr lange bis zum Beginn der zweiten Schicht, dachte er, nachdem er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. Er beschloß, in seine Separatnische zurückzukehren, die dritte Schicht zu verschlafen und nicht über das Geschehene nachzudenken. Er war plötzlich sehr müde.
Während der ersten Phase des Experiments versuchte Jain, Knox darin zu unterweisen, die Erinnerungsreaktion selbst zu kontrollieren. Drei Monate lang saß der alte Mann jeden Tag stundenlang im Computersessel und kommentierte seine Reminiszenzen. Jedoch war er außerstande dazu, die eidetischen Illusionen aus eigener Kraft zu beschwören. Fakten, Streiflichter, einige vage Sinneseindrücke – mehr brachte er nicht zustande. Doch wenn Jain den Stimulator einschaltete, erstrahlte die Vergangenheit so hell wie die Mittagssonne, und dann glitt die Welt des Jahres 2014, das Laboratorium und die Türme, in den Dunst des Unwirklichen.
Er erlebte alles noch einmal …
… Die DeVeau-Schule wurde an einem kühlen Frühlingstag eingeweiht. Ein beharrlicher Nieselregen verwischte nach und nach die Spuren, die die Arbeiter im gefrorenem Schlamm hinterlassen hatten. Unruhe kam in die Menge der Würdenträger und Beamten, und alle drängten dem Eingang der Schule entgegen. Schließlich trat der letzte von ihnen ein, und sie alle hörten, wie Martin Carr, der Chef Knox’, die architektonische Struktur seinem eigenen Reputationskonto gutschrieb. Knox stand ein wenig abseits und
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