Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
Streit losging. In der Familie, meine ich. Das muß so …«
Sie überlegte.
»Zwei Jahre her sein? Eins? Schwer zu sagen. Ich weiß die Details nicht. Absolut nicht. Ich gehe davon aus, daß ich im Laufe des Tages sehr viel mehr erfahren werde. Aber wenn ich mich nicht sehr irre, dann geht es darum, daß der eine Sohn dem anderen vorgezogen wurde.«
»Die alte Geschichte also.«
»Ach, hier sitzt ihr?«
Marry schlurfte zur Kaffeemaschine. Ihr gesteppter rosa Morgenrock löste sich an der Brust auf und wurde um ihre Taille mit einer altmodischen seidenen Gardinenschnur zusammengehalten. Die Puschel schlugen bei jedem ihrer hinkenden Schritte gegen ihre Oberschenkel. Sie sah aus wie ein lustiger Luftballon.
»Hallo, Marry«, sagte Nefis lachend. »Du bist aber früh dran.«
»Weißt du überhaupt, was ich vor Heiligabend noch alles erledigen muß?«
Wütend zählte sie an ihren mageren Fingern ab.
»Erstens: Es fehlen noch immer zwei Sorten. Zimtsterne und Kokosmakronen. Zweitens: Der Christbaumschmuck vom letzten Jahr muß gesäubert und vielleicht repariert werden. Zu Silvester ist es ja hoch her gegangen, wenn ich das richtig in Erinnerung habe. Außerdem muß ich noch allerhand neuen Kram testen. Drittens: Ich muß …«
»Ich gehe jetzt jedenfalls«, sagte Hanne und erhob sich.
»Das hab ich mir gedacht, ja. Und wann kommst du zurück, wenn ich die Dame fragen darf?«
»Ich rufe an«, sagte Hanne kurz und steuerte das Wohnzimmer an.
»Du, Hanne«, sagte Marry und packte ihren Arm. »Soll das heißen …«
Sie wies mit einem gekrümmten Zeigefinger auf die Zeitung.
»Bedeutet das, daß wir von deinem Weihnachtsurlaub nur noch träumen können?«
Hanne lächelte kleinlaut und schwieg.
»Also wirklich, Hanna.«
Nefis sprang auf und stand nun neben Marry, mit ihr eine Art Mauer bildend. Diese anklagende Haltung, in der sich die beiden immer einig waren, kannte sie nur allzu gut.
»Ich rufe an«, sagte Hanne mürrisch und ging.
Als sie zwanzig Minuten darauf im Auto saß, spürte sie noch immer den matten Schlafgeschmack aus Nefis’ Mund auf der Zunge.
Sie hätte sich am liebsten krank gemeldet. Vielleicht sollte sie das einfach tun. Nichts leichter als das. Sie würde diesen Tag abwarten und sich dann nachher entscheiden. Nachmittags, vielleicht.
Oder nach dem Wochenende.
In einer Wohnung im Blindernvei saß eine ältere Frau und weinte. Neben ihr auf einem harten Sofa saß eine Pastorin und versuchte, sie zu trösten.
»Ihr Sohn wird bald hier sein«, sagte die Pastorin, eine Frau, die noch keine dreißig war. »Sein Flugzeug ist jetzt schon gelandet.«
Viel mehr gab es nicht zu sagen.
»Aber, aber«, sagte sie hilflos und streichelte die Hand der Frau.
»Auf jeden Fall ist er glücklich gestorben«, sagte die Witwe plötzlich.
Die Pastorin setzte sich erleichtert auf.
»Er starb in meinen Armen«, sagte die ältere Frau, und ihr verweintes Gesicht zeigte ein Lächeln.
Die Pastorin starrte in das verweinte Gesicht, ein wenig schockiert, mehr noch verlegen, und sagte:
»Wie wäre es mit einer Tasse Kaffee? Jetzt wird Ihr Sohn bald hier sein.«
»Darüber kann ich doch nicht mit ihm reden. Das wäre einfach nur peinlich. Für uns beide. Daß sein Vater und ich noch immer Freude an den körperlichen Seiten einer Beziehung hatten, geht meinen Sohn nun wirklich nichts an. Um Himmels willen! Welchen Tag haben wir heute?«
Die Pastorin dachte kurz nach, wagte diesmal aber nicht, ihre Erleichterung zu zeigen.
»Den 20. Ja, der 20. Dezember. Bald ist Heiliger Abend.«
Sie hätte sich die Zunge abbeißen können. Die Witwe brach wieder in Tränen aus.
»Das erste Weihnachtsfest ohne Karl-Oskar. Das erste, nach so vielen …«
Der Rest ging in ihrem heftigen Schluchzen unter. Wenn sie nur weinen könnte, dachte die Pastorin. Wenn sie nur weinen könnte. Und wenn ihr Sohn doch nur bald hier wäre!
»Wir feiern sonst immer in Duvamåla«, sagte endlich die Witwe. »Ja, das ist unser Ferienhaus, wissen Sie. Ich heiße Kristina und mein Mann Karl-Oskar, und da fanden wir das sehr witzig. Duvamåla.«
Die Pastorin verstand gar nichts, griff dieses Thema aber begeistert auf.
»Unser Ferienhaus heißt Friedlich«, stammelte sie.
»Warum das?«, fragte die alte Frau.
»Na ja …«
»Immerhin ist er glücklich gestorben«, sagte die Witwe noch einmal mit bedrohlichem Unterton.
Sie duftete nach einem leichten, sommerlichen Parfüm und wirkte bemerkenswert gefaßt dafür, daß sie vor
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