Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
gate gewidmet. Das Foto lief über sechs Spalten; die Fassade des Wohnhauses diente im Layout als Hintergrund für drei Privatfotos von Mutter, Vater und ältestem Sohn Stahlberg. Hermann Stahlberg war offenbar an Bord eines Bootes aufgenommen worden; er stand in einem feschen Blazer mit Goldknöpfen und dem Emblem der Reederei an der Reling. Er lächelte ein wenig, schob das Kinn vor und sah an der Kamera vorbei. Seine Frau lächelte etwas strahlender auf einem im Haus aufgenommenen Bild. Sie zerschnitt eine Sahnetorte mit mehr Kerzen, als Hanne zählen mochte, das Blitzlicht spiegelte sich in ihren Brillengläsern und gab der Frau etwas leicht Hysterisches. Prebens Bild war unscharf. Er wirkte viel jünger als seine über vierzig Jahre. Er hatte halblange Haare, und sein Hemd stand offen. Das Bild mußte schon etliche Jahre alt sein.
Woher nehmen die das, dachte Hanne und ertränkte ihre Tabaksucht im Kaffee. Zwei, drei Stunden nach dem Mord, und schon schütteln sie private Bilder aus dem Ärmel. Wie machen sie das? Welche Fragen stellen sie, wenn sie sich an Bekannte und Verwandte wenden, noch ehe am Tatort das Blut geronnen ist? Und wer rückt solche Bilder heraus?
»Meine Hanna«, sagte Nefis mit sanfter Stimme.
Hanne fuhr zusammen und drehte sich um. Eine splitternackte Nefis breitete die Arme aus.
»Du bist immer so schreckhaft. Was soll ich denn dagegen tun, daß ich dich immer erschrecke? Mir eine Klingel um den Hals binden?«
»Glocke«, sagte Hanne. »Um den Hals trägt man Glocken. Kühe und Schafe und so. Du brauchst eine Glocke. Guten Morgen.«
Sie tauschten einen leichten Kuß. Nefis roch nach Nacht und bekam eine Gänsehaut, als Hanne ihren Rücken streichelte.
»Lauf nicht so hier rum. Marry kann doch hereinkommen.«
»Marry verläßt ihre Gemächer nie vor acht Uhr«, sagte Nefis, nahm aber dennoch einen riesigen Wollpullover von einer Stuhllehne und zog ihn über den Kopf. »So. Bin ich jetzt … anständig genug?«
Nefis hatte sich mit derselben Begeisterung wie für fast alles Norwegische auf die neue Sprache gestürzt. Obwohl sie noch immer kein Schweinefleisch essen wollte und auf einem unerträglich warmen Schlafzimmer bestand, strickte sie jetzt voller Hingabe, war eine durchaus passable Skiläuferin geworden und zeigte ein unbegreifliches Interesse an der Osloer Straßenbahn. Sie schrieb wütende Leserinnenbriefe, um gegen die dauernden Einsparungen im öffentlichen Nahverkehr zu protestieren. Wenn Hanne ein seltenes Mal an ihre erste Begegnung zurückdachte, 1999 auf einer Piazza in Verona, dann hatte sie dabei eine ganz andere Frau vor Augen, es war eine fast unwirkliche Erinnerung. Die Nefis von damals war für Hanne ein einziges großes Geheimnis gewesen. Bei ihrer Begegnung mit Norwegen schien sie es eilig zu haben, als wolle sie etwas aufholen, das sie nicht ganz durchschauen konnte, das ihr aber immer verwehrt geblieben war, solange sie ihrer beeindruckenden akademischen Karriere zum Trotz vor allem die geliebte Tochter einer schwerreichen türkischen Familie gewesen war.
Nefis konnte Wörter wie Paradigmenwechsel benutzen. Aber den Namen ihrer Lebensgefährtin lernte sie einfach nicht.
»Hanna«, sagte sie entzückt und wirbelte in dem knielangen Pullover herum. »Das kratzt. Komm, wir gehen wieder ins Bett.«
Hanne schüttelte den Kopf. Sie leerte die Tasse und goß nach.
»Ist das dein Fall?«
Nefis nickte zur Zeitung hinüber.
»Ja.«
»Wir haben heute nacht die Nachrichten gehört. Marry und ich. Grau-en-haft.«
Sie dehnte dieses Wort so lang, daß Hanne lächeln mußte.
»Geh wieder schlafen. Ich dusch nur schnell, und dann fahr ich ins Büro.«
Aber Nefis zog einen Stuhl an den Tisch und setzte sich.
»Erzähl«, sagte sie. »Ist das eine berühmte Familie? Das klang so in den Nachrichten.«
»Berühmt …«
Hanne zögerte.
»Das nicht gerade. Aber wer rosa Zeitungen liest, kennt den Namen schon.«
»Rosa Zeitungen«, wiederholte Nefis unsicher, dann fiel es ihr ein. »Wirtschaftszeitungen!«
»Ja. Ich weiß das alles noch nicht so genau. Aber die Familie … also, der Vater, glaube ich«, sie zeigte auf Hermann Stahlberg, »besaß eine mittelgroße Reederei. Nicht wirklich groß, aber ziemlich lukrativ. Er war clever genug, um immer rechtzeitig vor den Konjunkturschwankungen in andere Tonnageklassen zu wechseln. Aber besonders prominent war er wohl nie. Nicht außerhalb der Branche. Ich hatte weder von ihm noch von der Reederei je gehört. Als der
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