Die Wahrheit dahinter: Kriminalroman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
zwölf Stunden ihren Mann verloren hatte. Die Pastorin nahm ihren eigenen Streßschweiß wahr und preßte die Arme an den Leib, um die Schweißringe zu verbergen.
»Ist es hier zu warm?«, fragte Kristina Wetterland. »Sie könnten vielleicht die Balkontür öffnen. Wann landet mein Sohn?«
»Er ist schon längst gelandet«, sagte die Pastorin, die jetzt ziemlich verzweifelt war. »Wie ich vorhin schon gesagt habe, sollte seine Maschine um …«
»Sie sind doch wirklich Pastorin, ja?«
Die Stimme klang jetzt ein wenig schärfer. Aber konzentriert.
»Ja, Vikarin.«
»Sie sind jung. Sie haben noch viel zu lernen.«
»Ja«, piepste die Pastorin.
Kristina Wetterland, die Witwe von Karl-Oskar Wetterland, Anwalt beim Obersten Gericht, putzte sich mit einem sauberen, gebügelten Taschentuch energisch die Nase. Danach faltete sie es sorgfältig zusammen, schob es in den Ärmel ihrer Golfjacke und holte tief Atem.
Jetzt hörten sie das Klirren von Schlüsseln. Jemand betrat die Wohnung. Gleich darauf erschien ein Mann mittleren Alters in der Wohnungstür. Er war hochgewachsen, gut angezogen und zutiefst erregt.
»Mama«, rief er. »Meine Mama. Wie geht es dir jetzt?«
Er lief auf sie zu, fiel vor seiner Mutter auf die Knie und umarmte sie.
»Wann ist das passiert? Und wie … ich habe es heute früh erfahren. Warum hast du nicht angerufen?«
»Herzchen«, sagte die Frau und streichelte den Kopf des Mannes, der doppelt so groß war wie sie. »Dein Vater ist gestern schon gestorben. Gegen sieben. Es ist im Schlaf gestorben, mein Schatz. Wollte nur ein Nickerchen machen. Er hatte um acht noch einen Termin. Wir wollten uns nur ein wenig ausruhen, wie wir das oft gemacht haben, weißt du. Nach dem Essen. Ich glaube nicht, daß er leiden mußte. Und damit müssen wir uns wohl trösten, Lieber. Damit müssen wir uns trösten.«
Plötzlich fiel ihr Blick auf die Pastorin.
»Jetzt können Sie gehen, Frau Pastorin. Danke für Ihren Besuch.«
Die junge Frau schlich davon und zog leise die Wohnungstür hinter sich zu. Sie hatte den Sohn nicht einmal begrüßt. Sie unterdrückte das Weinen, bis sie die Straße erreicht hatte.
Dichter Schnee fiel, und in vier Tagen war Jesu Geburtstag.
»Das ist doch einfach unfaßbar«, sagte Hanne Wilhelmsen gereizt und schaute auf die Armbanduhr. »Der Mann sieht norwegisch, gepflegt und wohlhabend aus. Hier ist nicht die Rede von irgendeinem verirrten Ausländer oder einem armen, obdachlosen Penner. Wieso ist es so verdammt schwierig, in Norwegen einen Norweger zu identifizieren?«
Billy T. zuckte resigniert mit den Schultern und fuhr sich mit der Hand über den Schädel.
»Wir arbeiten ja daran. Wir haben hier ganz schön viel zu tun, Hanne.«
»Ja, das kannst du wohl sagen. Aber offenbar hat die ganze Truppe vergessen, daß es nun mal vier Tote waren. Da sollte man doch meinen, es sei das wichtigste, festzustellen, wer dieser vierte Tote ist.«
Staatsanwalt Håkon Sand schnitt eine Grimasse, ehe er die Brille abnahm und mit seinem Hemdzipfel polierte. Er saß zurückgelehnt in einem überdimensionalen Schreibtischsessel hinter einem mit Papieren übersäten Schreibtisch. Ein Telefon klingelte. Er wühlte verwirrt zwischen den Mappen. Das Telefon verstummte, ehe er den Apparat gefunden hatte.
»Wir kommen schon noch dazu«, sagte er müde. »Reg dich ab, Hanne. Wie viele arbeiten jetzt eigentlich an dem Fall?«
»Bisher insgesamt vierzehn«, antwortete Billy T. »Aber heute im Laufe des Tages werden noch welche dazukommen. Der Abteilungschef streicht wie besessen Urlaub und verbietet es, daß man Überstunden abbummelt. Mit anderen Worten, im Haus herrscht Bombenstimmung.«
»Na gut«, sagte Håkon Sand und starrte aus zusammengekniffenen Augen durch seine Brille, die noch nicht viel sauberer geworden war. »Und wann werdet ihr unseren vierten Mann identifiziert haben, was glaubt ihr?«
»Ziemlich bald«, sagte Silje Sørensen in der Absicht, die gereizte Stimmung ein wenig zu entschärfen. »Irgendwer muß ihn doch vermissen.«
Hanne Wilhelmsen ließ den Blick auf ihrem Spiegelbild im Fenster ruhen. Draußen war es noch dämmerig, obwohl es schon ziemlich spät war. Das Licht drang einfach nicht richtig durch. Ein schwerer Kältedeckel drückte auf die Stadt. Auspuffgase durchzogen die Straßen, allerlei Dreck lag grau am Straßenrand, und sogar die Schneeflocken, die hinter der Glasscheibe mit Hannes Spiegelbild tanzten, wirkten schmutzig.
»Streng genommen ist wohl
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