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Die Wahrheit der letzten Stunde

Die Wahrheit der letzten Stunde

Titel: Die Wahrheit der letzten Stunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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»Wir kommen gleich rüber.«
     
    Meine Mutter wohnt zweieinhalb Meilen entfernt, in einem alten Steinhaus, das von allen in New Canaan nur Gingerbread Cape - Pfefferkuchenhaus - genannt wird. Faith sieht sie fast jeden Tag; sie geht an den Tagen, an denen ich arbeite, nach der Schule zu ihr. Wenn das Wetter nicht so schlecht wäre, könnten wir zu Fuß gehen. Faith und ich sind gerade in den Wagen gestiegen, als mir einfällt, dass ich meine Handtasche auf der Arbeitsfläche in der Küche habe stehen lassen.
    »Warte hier, ich bin gleich wieder da«, sage ich, steige wieder aus und haste zwischen den Regentropfen hindurch, als wäre ich aus Zucker.
    Als ich reinkomme, läutet das Telefon. »Hallo?«
    »Ah, du bist ja zu Hause«, sagt Colin. Mein Herz tut einen Sprung beim Klang seiner Stimme. Mein Mann ist Verkaufsleiter eines kleinen Werks, das beleuchtete Notausgangsschilder herstellt, und er ist zwei Tage in Washington D.C., um einen neuen Vertreter einzuarbeiten. Er ruft mich an, weil das mit uns eben so ist - wir sind so eng miteinander verknüpft wie der Knoten in den Schnürsenkeln eines Stiefels und können es einfach nicht ertragen, getrennt zu sein.
    »Bist du am Flughafen?«
    »Ja. Ich sitze in Dulles fest.« Ich wickle die Telefonschnur um meinen Arm und höre zwischen den weichen Vokalen seiner Worte heraus, was er sich nicht traut, in der Öffentlichkeit zu sagen: Ich liebe dich. Ich vermisse dich. Du gehörst mir. Im Hintergrund verkündet eine blecherne Stimme die Ankunft eines United-Fluges. »Geht Faith heute nicht zum Schwimmen?«
    »Sie geht zum Ballett. Um eins.« Nach einer kurzen Pause füge ich hinzu: »Wann kommst du nach Hause?«
    »So bald ich kann.« Ich schließe die Augen und denke, dass nichts über eine Umarmung nach einer Trennung geht, nichts schöner ist, als mein Gesicht an die Rundung seiner Schulter zu schmiegen und tief seinen Duft einzuatmen.
    Er legt auf, ohne auf Wiedersehen zu sagen, was mich zu einem Lächeln veranlasst. Das ist typisch Colin, kurz und bündig: bereits in Hektik, kann es gar nicht erwarten, zu mir zurückzukehren.
     
    Auf der Fahrt zu meiner Mutter hört es auf zu regnen. Als wir an dem langgezogenen Fußballfeld am Ortsrand vorbeikommen, schieben sich die ersten Fahrzeuge rechts auf den Gehweg. Ein makelloser Regenbogen spannt sich über das satte Gras des Spielfelds. Ich fahre weiter. »Man könnte meinen, sie hätten noch nie einen Regenbogen gesehen«, sage ich und gebe Gas.
    Faith kurbelt ihr Fenster herunter und hält ihre Hand nach draußen. Dann hält sie die Finger vor mich hin. »Mami!«, ruft sie. »Ich habe ihn berührt.«
    Aus reiner Gewohnheit blicke ich hinunter. Ihre ausgestreckten Finger sind rot, blau und apfelgrün verfärbt. Im ersten Moment stockt mir der Atem. Dann erinnere ich mich wieder daran, dass sie erst vor einer Stunde mit einer Handvoll Filzstifte im Wohnzimmer auf dem Boden gehockt hat.
     
    Das Wohnzimmer meiner Mutter wird beherrscht von einem hässlichen hautfarbenen Kunstledersofa mit einzelnen Sitzkissen. Ich habe damals versucht, sie zu ein oder zwei Ohrensesseln mit Echtlederbezug zu überreden, aber sie hatte nur gelacht. »Leder«, sagte sie, »das ist etwas für gojim mit Namen, die auf die ersten Einwanderer von der Mayflower zurückgehen.« (Goj = jüdische Bezeichnung für NichtJuden; Anm. d. Übers.) Hiernach habe ich es aufgegeben. Erstens besitze ich selbst eine Ledercouch, und zweitens bin ich mit einem Goj verheiratet, dessen Vorfahren auf der Mayflower in die Neue Welt gereist sind. Wenigstens hat sie darauf verzichtet, das Sofa mit einem Plastik-Schonbezug zu überziehen, so wie meine Großmutter Fanny es getan hat, als ich noch klein war.
    Aber als ich an diesem Tag das Wohnzimmer betrete, nehme ich das Sofa gar nicht wahr. »Wow, Oma«, flüstert Faith tief beeindruckt. »Liegt da jemand drin?« Sie lässt sich auf die Knie fallen und klopft mit den Fingerknöcheln gegen die auf Hochglanz polierte Mahagonikiste.
    Wenn alles planmäßig verlaufen wäre, würde ich jetzt vermutlich gerade Melonen aussuchen, an ihnen riechen und sie auf ihre Reife hin prüfen, oder ich würde Mr. Li dreizehn Dollar vierzig Cent bezahlen für sieben Hemden von Brooks Brothers, die derart gestärkt waren, dass sie wie Torsos hinten im Wagen lagen. »Mutter«, sage ich. »Warum steht ein Sarg in deinem Wohnzimmer?«
    »Das ist kein Sarg, Mariah. Siehst du die Glasplatte oben drauf? Das ist ein Sargtisch.«
    »Ein

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