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Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich A. Kittler
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amgeilsten toll, der soll mich« – bekommen (ergänzen wir). Der Krug spricht selbst, ein oggetto parlante im Sinne von Jesper Svenbro. Der Krug ist ausgesetzt und ist selbst der Aufruf, daß jeder von den jungen Leuten geiler als der andere tanzen soll – »paizei« ist der Wortlaut, er soll »kinden« oder er soll spielen, »paizein« kommt von »pais«, das Kind. Es geht um Preis und Agon in musischer Hinsicht, und damit ist der Gesang als der Lohn des Tanzes ausgesetzt, weil der Gesang ja auch vorher der Träger in dieser Szene gewesen ist. Und wenn die vollkommen sinnlosen vier oder fünf Buchstaben am Ende in der anderen, ungelenken Handschrift die Alphabetisierung selber sind?
    Der eine zeigt, wie er schreiben kann, bevor er gesungen hat; der andere sagt, ich möchte auch mal schreiben, und dann sagt der Erfahrene dem Unerfahrenen: »Fang mal an …«. So lernt man in Griechenland schreiben – um zu singen und zu musizieren. Und das ist ja in der Ilias der höchst seltene Ausnahmefall. Anders steht es mit der Odyssee. Die Odyssee beginnt mit Penelopeia, die auf den fernen Odysseus wartet. Und sie wird damit aufhören, daß Odysseus im Bett nach dem Weibe, nach der Freude, Penelopeia seine Abenteuer erzählt. Sie sagt ihm auch, daß er die Sirenen gehört hat. Und dann schlafen sie beide ein, am Ende des dreiundzwanzigsten Gesangs. Aber dazwischen, in dieser Heimkehr, dieser langen, dahingezogenen, bekommen es die Helden mit Frauen zu tun. Nachdem die Kyklopen und Laistrygonen abgetan sind, taucht Kirke auf. Die singt am Webstuhl, während Penelope ja am Webstuhl weint. Dann taucht für ein Jahr Kalypso auf, eine andere Nymphe, die am Webstuhl ebenfalls singt und webt, also Arbeitsbezug und Arbeitsgesang hat.
    Und dann gibt es die zahllosen Töchter und Witwen der toten Helden vom Trojanischen Krieg, die alle ihr Geschrei machen, so daß Odysseus am Ende des elften Gesangs flieht. Er hält es nicht mehr aus bei der Totenbeschwörung, die ja eher eine Totinnenbeschwörung ist. Und dazu sage jetzt ich und bekenne mich dazu, das steht nirgendwo vorher: Das sind die Frauen, das sind die Vokale, das ist die Rückkopplung der Ilias , also des Todes, in die Liebe, den Gesang, die Musik. Und einige Male – sagen dann die Interpreten oder Deuter und Philosophen – verfalle dann der Held Odysseus diesem Sirenengesang. Ich glaube nicht, daß er verfällt, sondern daß die Sirenen einmal mehr die Musik sind. Zwölfter Gesang,Vers 184: »Los, komm denn her, Odysseus« – also die Sirenen ergreifen die Stimme, die Vokale, es sind extrem viele Vokale in dem Ansingen, das sie dem Helden antun –
    »Los, komm denn her, Odysseus, viel gepriesen, großer Ruhm Achaias, angelegt das Schiff, damit du unsere Stimme hörst. Nie noch vor dir ist einer auf schwarzem Schiff vorübergezogen, der nicht honigsummend Stimmen aus unsern Mündern hörte. Hat lieber volle Lust genossen und kommt mehr wissend heim. Denn alles wissen wir hier, was in Trojas Weite Achaier und Troer um Begehr der Götter duldeten. Wir wissen, was da wird, auch vieles weitere mehr.«
    Angeblich hat Odysseus den Gefährten nachher die Ohren verschlossen, und er selbst ist gefesselt am Mastbaum. Merkwürdig ist, daß in den folgenden Versen schlicht und wörtlich übersetzt Folgendes steht: »Als wir die Sirenen nicht mehr hörten« – es steht nicht da, als ich die Sirenen nicht mehr hörte. Und »als wir die Insel verließen« – nicht, als wir an der Insel dann vorbeigeschifft waren. Und das Wunder der Sirenen, ob die Erotik nun dazugehört oder nicht, ist, daß sie auf der blumenreichsten Insel wohnen, einer Insel, die Odysseus wahrscheinlich auch betritt. Das heißt, Süßwasser ist da, das heißt, sie sind Nymphen, denn Nymphen sind Süßwassergottheiten, die verehrt man nicht im Tempel, sondern dort, wo keine archäologischen Befunde aus der Griechenzeit zu machen sind. Und deshalb gibt’s eben – wegen der Blumen und der Sirenen und des Süßwassers – auch Bienen, und wenn’s Bienen gibt, gibt’s Honig usw. Und Singvögel, weshalb das alles so hell und schön klingt. (Das ist eine Archäologie aus dem Text, die ich hier versuche, nicht eine aus Befunden.) Und deshalb heißt der schönste Vers – sie sind alle schön: »Keiner fährt vorbei, ehe er nicht honigsummend Stimme«, die eine, Singular, »aus unseren Mündern hörte«, Plural. Die beiden Sirenen sind zwei Organe, zwei Löcher und erzeugen eine Eintracht. Und die denken

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