Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Anschreibung von Zahlen, die überwältigend einfach und schön ist. Sie nehmen nämlich einfach die Reihenfolge der griechischen Buchstaben für die Reihenfolge erstens der Einer und zweitens der Zehner und der Hunderter, bauen also ein mathematisches Alphabet aus siebenundzwanzig Buchstaben, aus denselben siebenundzwanzig Buchstaben, nehmen noch ein paar alte dazu, »alpha« bis »iota« ist von eins bis neun, »kappa« bis »tau« ist zehn bis neunzehn, und dann kommt hundert bis neunhundert. Und wenn sie sagen wollen: »Die Quarte ist 4 : 3«, dann schreiben sie einfach: »delta kai gamma«. Und es steht da. Und so hört die Musik nicht mehr auf aufzuhören. Das Flüchtigste und das Schönste auf der Welt ist nun nicht mehr nur eine Schrift, die der Sänger gesungen hat, sondern auch die Kithara – die dazu begleitet – kommt als Instrumentalmusik zu einem anschreibbaren System. Und die Griechen kommen nicht wie die Aufklärer von Mythos zu Logos und singen und dichten immer schlechter, sondern es wird immer schöner.
Aus dieser Musiktheorie geht alles hervor, was seitdem Wissenschaft ist, vor allen Dingen die Wissenschaft von der »physis«, von der Natur. Es heißt zum Beispiel, daß Empedokles von Akragas bei den Pythagoreern gelernt habe. Tetraktys ist die Wurzel alles immer strömenden und seienden Werdens, aller Physis. Der mathematische Grund dessen, was ist, ist diese Einheit der ganzen Zahlen, wie sie geometrisch-arithmetisch erscheinen.
Empedokles scheint es nicht zu glauben, sondern im schönen Agrigent geht ihm etwas ganz anderes auf: nämlich daß er in einem der schönsten energetischen Systeme der Welt ist. Er hat nämlich das himmlische Feuer auf Erden, den Aetna, Gott Zeus, er hat das brandende Meer, er hat die blühende Erde, und er hat die Luft. Und dann weist er diesen vier Elementen in seinem Weltbild vier Gottheiten zu, und dann führen seine Nachfolger den allgemeineren Namen ein, der dann am Ende über »stocheion atomon« – das Unteilbare – bis zur modernen Atomphysik führt, die wiederum ein Alphabet ist, genau wie das Alphabet der Griechen. Erstens weil sie ja H den Wasserstoff nennt, O den Sauerstoff, N den Stickstoff.
Dieser Grundgedanke, daß allem, was ist, Buchstaben in ihrer Abgezähltheit zugrunde liegen, bringt der Erfinder der Atomtheorie, Leukippos von Milet, auf den einfachen von Aristoteles überlieferten Gedanken: »Denn aus denselben Buchstaben wird Tragödie und Komödie.« – Also das herzzerreißende Leid und die aristophanisch-phallische Lust, die letzte Analyse, sie beide sind auch ein Alphabet. Nun gut.
Wir befinden uns in einem akustisch-schriftlichen Bereich, den ich so nahebringen wollte, daß man begreift, daß vielleicht auch die Archäologie sich trennen sollte von dem Glauben, Augen seien bessere Zeugen als Ohren. Ich glaube es nicht. Versuchen wir eine akustische Archäologie.
Man glaubt, der Gesang der Sirenen sei für immer vernommen. Ich bin der Einzige, der zu widersprechen wagt. Der Nanophysiker Wolfgang Heckl – »nano« ist vom griechischen Wort für den Zwerg abgeleitet – hat sich überlegt: Da sitzt ein schöner junger Mann oder besser eine schöne junge Frau an einer Töpferscheibe, damals in Griechenland oder auch in Ägypten. Sie sitzt, tritt, und es dreht sich. Sie macht schöne geometrische Muster hinein. Man kann gerade Linien ziehen, indem man die Nadel oder den Kamm, mit denen man ritzt, einfach festhält. Und dann sagt Heckl: Die Absichtdes Menschen ist eins, die Physik hinter seinem Rücken ist etwas anderes. Auch Stifte und Kämme und Hände sind, wenn jemand singt oder ein Instrument spielt, gewissen mikroskopischen oder nanoskopischen Bewegungen ausgesetzt. Kurz, wir machen einfach winzig kleine Spuren. Und warum soll nicht die Stimme der beiden Sirenen, wenn jemand von ihnen sang, sich eingeschrieben haben?
Im Kielwasser der Odyssee
Wir sollten uns vor allem anderen fragen, warum unsere Fragen immer wieder auf Odysseus zurückkommen. Die Antwort steht bei Borges, der da schrieb, es gebe für Europa nur zwei Geschichten: In der einen ziehen die Helden aus, um beim siegreichen Kampf um eine ferne Stadt zu fallen; in der anderen sticht der Held in See, um nach zwanzig Jahren Krieg und Irrfahrt zu seiner Liebe heimzukehren.
Ich denke, es ist dieser Nostos, diese immer wiederholte Rückkehr zu den Griechen, die nicht bloß eine Vorlesungsreihe prägt, sondern unser Dichten und Denken allgemein. Der Fortschritt wird
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