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Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Die Wahrheit der technischen Welt: Essays zur Genealogie der Gegenwart (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich A. Kittler
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immer nur daraus bestehen, das weiter zu entfalten, was die Griechen begonnen haben, sagte, im Angesicht der Akropolis, schon Ernest Renan. Wenn wir statt vom Fortschritt besser von Rekursionen sprechen, kann dieser Satz Leitfaden bleiben. Ich werde mich freilich einzuschränken haben, also Hegel, Nietzsche, Heidegger, Foucault vergessen. Nach der Odyssee selbst komme ich nur auf vier ihrer Rekursionen zurück: Vergils Aeneis und Dantes Hölle in der Divina Commedia als zwei literarische Irrfahrten, Godards Le Mépris und Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum als zwei filmische.
    Das Medium selbst, das solche Dichtungen und Medien überhaupt ermöglicht hat, wird gern übersehen. Es ist das Alphabet in jener einmaligen Form, die ihm die Griechen gegeben haben – nämlich ein Alphabet, das auch Vokale anschreibt und eben damit jede beliebige Sprache. Von der homerischen Kunstsprache über Vergils Latein und Dantes selbst erschaffenes Toskanisch bis hin zu französischen oder englischen Drehbüchern bleibt dieses eine Alphabet am Werk.
    Warum es das kann, ist eine dunkle Frage. Die übliche Antwort lautet, auch die Griechen hätten um − 800, nach vier Jahrhunderten Schriftlosigkeit, ein semitisches Alphabet übernommen, um mit Puniern und Phönikern Handel zu treiben. Damit bleibt aber völlig rätselhaft, warum aus archaischer Zeit keinerlei kommerzielle oder politische Inschriften erhalten sind. Es gibt nur Hexameter, Weihinschriften, Obszönitäten und – Homer. Ebendas führt aufdie Spur. Um die Hexameter der Ilias zu rezitieren, sind Erfindung und Anschrift von Vokalen unabdingbar; kein Sänger wüßte sonst, ob Silben lang erklingen sollen oder kurz.
    Also gehen wir mit Barry B. Powell – gegen Latacz oder Burkert, heißt das – davon aus, daß Homer zwar selbst – wie seine vielen Vorgänger – nicht lesen oder schreiben konnte, daß er aber seine Ilias dem Alphabet-Adaptor noch diktiert hat. [1] Sonst wären die 24 Gesänge nicht so wortwörtlich bis auf uns gekommen.
    Die Ilias spielt um − 1200, also zu einer Zeit, da Griechen und Kreter über eine Silbenschrift verfügten, die mit dem Brand von Troia, Knossos und Mykene zwar in Vergessenheit geriet, aber nur dank der Brände auch erhalten blieb. Für Hexameter war diese Schrift schlichtweg unbrauchbar. Die Irrfahrten des Odysseus dagegen – im Gegensatz zu seinem hölzernen Pferd – spielen vier Jahrhunderte später. Iason und die Argonauten haben, wie Kirke zu Odysseus sagt, das Schwarze Meer schon längst entdeckt; jetzt geht es umgekehrt darum, in Wettbewerb mit den Phönikern das Mittelmeer als fernen Westen zu erschließen: von Libyen über Süditalien bis an die Pforten des Herakles, unser Gibraltar. Odysseus irrt von den Lotophagen zu furchtbaren Giganten, also jenen Megalithkulturen, die lange vor den Griechen Westsizilien und Südkorsika beherrschten. Dann plötzlich ändert sich der Ton: Anstelle einer Männerwelt wie in der Ilias tritt eine Fremde, in der es einzig Nymphen, Göttinnen, Musik gibt. Kalypso singt und webt, Kirke singt und zaubert. Beide spiegeln also wider, was die Verschriftung des Gesangs bedeutet. Klarer noch versprechen zwei Sirenen, dem Helden selbst die Ilias vorzusingen. So ist die Odyssee schon episch-musikalisch die erste Rekursion Homers.
    Richard Bentley, der uns um 1700 das im Griechischen verstummte Digamma wieder schenkte und damit die Homer-Erforschung überhaupt eröffnet hat, sagte das so schön wie klar: »He wrote a sequel of Songs and Rhapsodies, to be sung by himself for small earnings and good cheer, at Festivals and other days of Merriment; the Ilias he made for the men, the Odysseis for the other Sex.« [2]
    Deur’ ag’ ion, poluain’ Odusseu, mega kudos Akkhaion (Od. XII 184) – vokalischer und schöner als zwei Musen, die mit einer Honigstimme gurren, hat es nie geklungen: »Komm hierher, Odysseus vieler Rätsel, großer Glanz Achaias!« (Selbstredend folgt der Held dem Ruf und landet, sonst könnte er die Verse nämlich gar nicht rezitieren. Wir haben das vor Jahren überprüft – wie Schliemänner der Ohren: Zwei Sängerinnen sangen auf der Blumeninsel südwestlich von Amalfi, wir anderen lauschten in zehn Metern Abstand, anfangs zu Schiff, danach an Land. An Bord vernahmen wir allein Vokale, an Land auch Konsonanten und mithin den Sinn der acht Hexameter.)
    Daraus folgt schon, daß der Gesang von Nymphengöttinnen dem Helden nautisch weiterhilft. Kirke schickt ihn von ihrer

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