Die Wahrheit stirbt zuletzt
aufgeschlagen da und wartete auf seinen Leser. Er oder sie kehrte jedoch nie mehr zurück. Er oder sie war wie vom Erdboden verschluckt. Die Menschen verriegelten ihre Tür und beteten verbotenerweise, die Schergen des NKWD mögen an der eigenen Wohnungstür vorübergehen, wie der Engel des Todes an den Türen der Israeliten in Ägypten vorübergegangen war.
Die drei Leichen würden unbemerkt daliegen, bis der Gestank irgendwann so fürchterlich wäre, dass irgendeiner seine Furcht überwinden und darum bitten würde, dass man die Wohnung öffnete. Aber nicht einmal das ließ sich mit Sicherheit sagen. Möglicherweise würden sie auch einfach vertrocknen. Und das konnte dauern. Die Angst war nicht mehr nur unser Feind, sondern auch unsere beste Waffe.
Keenan schickte Svend los, um ein NKWD-Siegel aufzutreiben. Mit seiner Kleidung und seinem Auftreten ging Svend mühelos als Sowjetbürger durch. Eine Viertelstunde später kam er mit einem der schwarzgrauen Siegel mit dem Emblem des NKWD zurück. Er hatte es vorsichtig von einer der Wohnungen im zweiten Hof abgezogen.
Vollkommen schockiert begriff ich, was sie vorhatten. Aber ich konnte Irina nicht einfach auf dem Boden liegen lassen. Und so trugen Svend und ich sie zu einem Bett. Ich musste es tun, obwohl meine Rippen und mein kleiner Finger höllisch schmerzten. Ich legte ihren Kopf auf dem Kissen zurecht, verschränkte ihre Arme über der Brust und breitete die Decke über sie. Svend verließ das Zimmer.
Ich kann mich nicht mehr an die Worte erinnern, die ich sprach, auch wenn ich es im Laufe der Jahre immer wieder versucht habe. Ich glaube, ich sagte, dass wir uns wie die Liebenden von Teruel irgendwann auf der anderen Seite des Dunkels wiedersehen würden. Aber daskann auch reines Wunschdenken sein. Ich weiß, dass ich sie auf die Stirn küsste und das Licht löschte, bevor ich das Zimmer verließ.
Svend gelang es, einhändig das NKWD-Siegel an der Wohnungstür anzubringen. Niemand würde es wagen, das gefürchtete Symbol der Macht zu zerstören und verbotenes Gebiet zu betreten, es sei denn, er wäre sehr dumm oder sehr mutig. An der Pforte hängte Svend den Schlüssel an das Brett an der Wand. Der Pförtner lag laut schnarchend mit dem Kopf auf seinen Armen. Er würde sich hüten, irgendjemandem etwas zu erzählen, wenn er später mit dröhnenden Kopfschmerzen aufwachte. Zudem hatten wir berechtigte Zweifel daran, dass er sich überhaupt an uns erinnerte.
In jener Nacht hatten wir Keenan versprochen, niemals zu verraten, wie es uns gelingen konnte, die Sowjetunion auf illegalem Wege zu verlassen. Aber sowohl Keenan als auch die Sowjetunion sind seit Langem tot, daher breche ich jetzt mein Versprechen. Für einen Dollar bekam man offiziell nur zwei Rubel, aber auf dem Schwarzmarkt konnte man einen Dollar gegen zweihundert Rubel eintauschen. Stalins Sowjetunion war ein entsetzlicher Polizeistaat, aber es war zugleich auch ein entsetzlich korrupter Polizeistaat.
Wie sich jetzt herausstellte, war Keenan Geheimdienstmitarbeiter, und als solcher verfügte er natürlich auch über Kontakte zum kriminellen Milieu Moskaus. In einer kleinen Wohnung, in der es nach Kohl, Tabak und Wodka stank, tauschten wir bei einem Mann eine große Summe Dollar um. Er war ein kräftiger, finsterer Mann, an beiden Händen und am Hals tätowiert, der nur Russisch sprach.
Er gehörte zur russischen Mafia, die Svend und Keenan »Wory w Zakone« nannten. Diebe im Gesetz. Es handelte sich um eine kriminelle Bruderschaft, die sich geschworen hatte, niemals mit den Behörden zusammenzuarbeiten,ganz gleich, ob man sich in Freiheit befand oder im Gefangenenlager, niemals Geld durch ehrliche Arbeit zu verdienen und niemals einen anderen Menschen an die Repräsentanten des Staates zu verraten. Es handelte sich um einen losen Zusammenschluss von Mitgliedern mit einem strengen Kodex – einem Gesetz, daher rührt auch der Name der Organisation –, zu einer Bruderschaft, die Verrat mit Misshandlung und Tod bestrafte. Ihre Brutalität war um vieles größer als die jener Organisation, die die Welt später mit der amerikanischen Mafia kennenlernen sollte.
Vierundzwanzig Stunden später bestiegen wir im Jaroslaw-Bahnhof den Zug. Wir waren gezwungen, diesen langen Weg außer Landes zu nehmen, weil unser Mann von der Wory w Zakone in Wladiwostok über die nötigen Kontakte verfügte, die uns an Bord eines Frachtschiffes mit Kurs auf Yokohama in Japan bringen konnten. Von dort aus gab es eine
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