Die Wahrheit über Alice
Melodie, die mir so vertraut war, dass ich jede Note, jedes Fortissimo
und Crescendo kannte. Ich beobachtete sie, wie immer gebannt von ihrer Musik, aber auch von der Wandlung, die sich vollzog,
wenn sie vor Publikum spielte. Auf der Bühne waren Rachels Scheu und Verlegenheit wie weggeblasen. Auf der Bühne war sie majestätisch
und souverän, so von ihrem Spiel und der Musik in Anspruch genommen, dass sie sich selbst vergaß. Wenn sie |32| so am Klavier saß, konnte man sich gar nicht vorstellen, dass sie schüchtern und unsicher sein konnte, dass sie noch ein junges
Mädchen war.
Während des ganzen Konzerts, das über eine Stunde dauerte, wandte Mum nicht eine Sekunde die Augen von Rachel ab. Wenn Mum
Rachel spielen hörte, war sie völlig versunken, vergaß Zeit und Raum und jeden, mit dem sie zusammen war. Sie verfiel in einen
tranceähnlichen Zustand.
Auch ich spielte Klavier. In technischer Hinsicht war ich gar nicht so schlecht, hatte ein Jahr zuvor die Prüfung für die
Siebte bestanden und schnitt bei schulischen und städtischen Musikwettbewerben häufig als Beste ab. Aber Rachel hatte echtes
Talent, und man hatte ihr schon drei verschiedene internationale Stipendien angeboten. Wochenlang hatten wir bei uns zu Hause
fast nur darüber debattiert, ob sie zum Studium nach Berlin, London oder Boston gehen sollte, um ihren Traum von einer Karriere
als Konzertpianistin zu verfolgen. Für mich war das Klavier bloß ein nettes Hobby, und ich hatte keine Lust, täglich stundenlang
zu üben. Aber für Rachel war es die große Liebe, ihre Leidenschaft, und sie arbeitete unermüdlich daran.
Rachel war achtzehn Monate jünger als ich, und obwohl es heißt, das älteste Kind sei immer besonders erfolgsorientiert, war
es bei uns umgekehrt. Rachel hatte Elan und Ehrgeiz. Ich interessierte mich weit mehr für Jungs und Partys und traf mich lieber
mit Freunden, als irgendwelche akademischen oder musikalischen Höhen anzustreben.
Mum und Dad sprachen unaufhörlich über Rachels Zukunft als Konzertpianistin. Diesem Ziel hatten sie sich voll und ganz verschrieben.
Ich weiß, dass andere Leute manchmal richtig schockiert waren, weil sie den Eindruck hatten, unsere Eltern würden Rachel bevorzugen,
sie vergöttern und sich weniger für mich interessieren. Ganz sicher tat ich einigen sogar leid, weil |33| sie glaubten, ich würde mich vernachlässigt fühlen. Aber ich empfand das nicht so, hatte auch keinen Grund dazu – Rachel und
ich hatten schon immer ganz unterschiedliche Wünsche. Von mir aus konnte Rachel ruhig die begabte Schwester sein. Ich wusste,
wie schwer sie dafür arbeitete, ein Wunderkind zu sein, und das schreckte mich eher ab. Ich wollte lieber mit meinen Freunden
zusammen sein und meine Freizeit genießen. Rachel mochte ja ein Genie sein, aber ich hatte wesentlich mehr Spaß – und wie
auch immer es von außen wirken mochte, ich hatte immer das Gefühl, dass man mir die besseren Karten zugeteilt hatte.
Rachel war ganz anders. Sie schien Freunde nicht so zu brauchen, wie die meisten Menschen das tun. Das bedeutet nicht, dass
sie kalt war oder Menschen nicht mochte, im Gegenteil. Die Menschen, die ihr wichtig waren, mochte sie sehr und war ihnen
gegenüber großherzig und zutiefst loyal. Aber sie war schüchtern. Gruppen machten sie verlegen, und sie fühlte sich unwohl,
und sie konnte beim besten Willen keine Konversation machen. Manchmal war sie so still und in sich gekehrt, dass sie auf Leute,
die sie nicht gut kannten, sogar unnahbar oder desinteressiert wirkte. Aber wenn es einem dennoch gelang, sie in ein Gespräch
zu verwickeln, stellte sich meistens heraus, dass sie sehr wohl alles mitbekommen hatte. Sie besaß eine sanfte und einfühlsame
Klugheit, die für ihr Alter ungewöhnlich war, und fast jeder, der sich die Mühe machte, sie besser kennenzulernen, bewunderte
sie. Sie war der einzige Mensch, den ich je gekannt habe, der völlig frei von Neid, Gier oder Arglist war, der einzige Mensch,
den ich je mit einem Engel vergleichen würde.
Und deshalb habe ich trotz allem, was die Zeitungen schrieben, nachdem sie getötet worden war, trotz all der schmerzhaften
Spekulationen und törichten Mutmaßungen über unser Verhältnis zueinander, nie vergessen, wie ich wirklich empfand. Ich |34| habe Rachel verehrt, zu ihren Lebzeiten ebenso wie auch nach ihrem Tod. Ich war ihr allergrößter Fan und werde es immer sein.
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A lice erscheint
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