Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
hatte ergeben, dass es sich um ein etwa fünfzehnjähriges Kind handelte, was darauf schließen ließ, dass Nola gleich oder kurz nach ihrem Verschwinden ums Leben gekommen war. Eine Fraktur am Hinterkopf lieferte noch mehr als dreißig Jahre nach den Geschehnissen den eindeutigen Hinweis, dass man dem Opfer mindestens einen Hieb versetzt hatte und es dadurch zu Tode gekommen war: Nola Kellergan war erschlagen worden.
Von Harry hatte ich noch immer nichts gehört. Also versuchte ich über die State Police, das Gefängnis oder Roth mit ihm Kontakt aufzunehmen, jedoch ohne Erfolg. Ich drehte in meinem Apartment fast durch, Tausende von Fragen quälten mich, und sein mysteriöser Anruf ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Als ich es am Wochenende nicht länger aushielt, sagte ich mir, dass mir wohl kaum etwas anderes übrig blieb, als selbst nachzusehen, was da in New Hampshire los war.
Am Montag, den 16. Juni 2008, verstaute ich frühmorgens mein Gepäck im Kofferraum meines Range Rovers und verließ Manhattan auf dem Franklin Roosevelt Drive, der am East River entlangführt. Ich sah New York an mir vorbeiziehen – die Bronx, Harlem –, bevor ich auf die I-95 Richtung Norden fuhr. Erst als ich schon tief genug in den Staat New York vorgedrungen war, um nicht mehr in Gefahr zu geraten, mich von meinem Vorhaben abbringen zu lassen und schön brav nach Hause zu fahren, rief ich meine Eltern an und informierte sie darüber, dass ich unterwegs nach New Hampshire war. Meine Mutter erklärte mich für verrückt.
»Was soll das, Markie? Willst du diesen barbarischen Verbrecher etwa in Schutz nehmen?«
»Er ist kein Verbrecher, Mama. Er ist mein Freund.«
»Dann sind deine Freunde eben Verbrecher! Dein Vater steht neben mir. Er ist der Meinung, dass du wegen der Bücher aus New York fliehst.«
»Ich fliehe nicht.«
»Dann läufst du also vor einer Frau weg?«
»Ich habe dir gerade gesagt, dass ich nicht weglaufe. Außerdem habe ich zurzeit keine Freundin.«
»Wann hast du endlich eine? Mir ist diese Natalia wieder eingefallen, die du uns letztes Jahr vorgestellt hast. Das war eine nette Schickse. Warum rufst du sie nicht noch mal an?«
»Du konntest sie nicht ausstehen.«
»Und warum schreibst du keine Bücher mehr? Alle haben dich geliebt, als du ein großer Schriftsteller warst.«
»Ich bin immer noch Schriftsteller.«
»Komm nach Hause. Ich mache dir ein paar gute Hotdogs und einen warmen Apfelkuchen, auf dem du eine Kugel Vanilleeis schmelzen lassen kannst.«
»Mama, ich bin dreißig Jahre alt. Ich kann mir selbst Hotdogs machen, wenn ich welche will.«
»Dein Vater darf keine Hotdogs mehr essen, stell dir vor. Das hat der Arzt gesagt.« Ich hörte meinen Vater im Hintergrund klagen, dass er sehr wohl ab und zu ein Hotdog essen dürfe, worauf meine Mutter ihn anfuhr: »Schluss mit Hotdogs und diesem Mist! Der Arzt hat gesagt, dass du davon Verstopfung kriegst. – Markie, Schatz? Papa sagt, du solltest ein Buch über Quebert schreiben. Das würde deine Karriere wiederankurbeln. Alle reden über Quebert, also würden auch alle über dein Buch reden. Warum kommst du nicht mehr zum Abendessen zu uns, Markie? Es ist so lange her … Mhmmm, denk doch nur mal an den guten Apfelkuchen …«
Nachdem ich Connecticut durchquert hatte, verfiel ich auf die dumme Idee, meine Opern- CD abzuschalten und mir stattdessen im Radio die Nachrichten anzuhören, und auf diese Weise erfuhr ich, dass vonseiten der Polizei etwas durchgesickert war: Die Medien waren darüber informiert, dass man bei den sterblichen Überresten von Nola Kellergan das Manuskript von Der Ursprung des Übels gefunden hatte, und Harry hatte eingestanden, dass er sich beim Verfassen des Buchs von seiner Beziehung zu ihr hatte inspirieren lassen. Binnen eines Vormittags hatte diese Meldung im ganzen Land die Runde gemacht. Im Shop einer Tankstelle kurz hinter New Haven, wo ich volltankte, klebte der Tankwart an der Mattscheibe eines Fernsehers, in dem eine Dauersendung zu diesem Thema lief. Ich stellte mich neben ihn, und als ich ihn aufforderte, den Ton lauter zu stellen, und er meine bestürzte Miene sah, fragte er: »Haben Sie das nicht mitgekriegt? Seit Stunden reden alle drüber. Wo waren Sie? Aufm Mond?«
»In meinem Auto.«
»Ha. Haben Sie kein Radio?«
»Ich habe Opern gehört. Das bringt mich auf andere Gedanken.«
Er musterte mich kurz. »Sie kenn ich doch, oder?«
»Nein«, entgegnete ich.
»Mir kommt’s so vor, als würde ich Sie kennen
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