Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
…«
»Ich habe ein Allerweltsgesicht.«
»Nein, ich bin sicher, dass ich Sie schon mal gesehn hab … Sie sind ’n Typ aus dem Fernsehen, stimmt’s? Schauspieler?«
»Nein.«
»Was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Schriftsteller.«
»Klar, Mann! Wir haben hier letztes Jahr Ihr Buch verkauft. Ich erinnere mich noch gut. Ihre Visage war auf dem Einband.« Er klapperte die Regale nach dem Buch ab, das offensichtlich nicht mehr da war. Schließlich trieb er eines hinten im Lager auf, kam zurück zur Verkaufstheke und verkündete triumphierend: »Hier, das sind Sie! Schauen Sie, das ist Ihr Buch! Marcus Goldman, steht drauf. Das ist Ihr Name.«
»Wenn Sie es sagen …«
»Und? Was gibt’s Neues, Mr Goldman?«
»Nicht viel, ehrlich gesagt.«
»Und wohin geht’s, wenn ich fragen darf?«
»Nach New Hampshire.«
»Hübsche Gegend, vor allem im Sommer. Was haben Sie dort vor? Gehen Sie angeln?«
»Ja.«
»Und was? Da oben soll’s Mordsbarsche geben.«
»Wohl eher Mordsärger. Ich fahre zu einem Freund, der Probleme hat. Riesenprobleme.«
»Ach was! So groß wie die Probleme von Harry Quebert können sie gar nicht sein!«
Er lachte schallend und schüttelte mir überschwänglich die Hand, weil man »hier nicht so oft berühmte Leute zu sehen kriegt«, dann spendierte er mir vor der Weiterfahrt einen Kaffee.
Die Öffentlichkeit stand kopf: Schon das Manuskript, das bei Nolas Knochen gelegen hatte, belastete Harry eindeutig, aber vor allem sorgte sein Eingeständnis, dass das Buch von der Liebesgeschichte mit einer Fünfzehnjährigen inspiriert war, für tiefes Missbehagen. Was sollte man jetzt von diesem Buch halten? Hatte die große Mehrheit Amerikas einen Triebtäter für gesellschaftsfähig erklärt, indem sie ihn zum Starautor gekürt hatte? Vor dem Hintergrund dieses Skandals stellten die Journalisten nun die unterschiedlichsten Hypothesen auf, was Harry veranlasst haben könnte, Nola Kellergan zu ermorden. Hatte sie gedroht, ihr Verhältnis publik zu machen? Hatte sie Schluss machen wollen, und ihm waren daraufhin die Sicherungen durchgebrannt? Über diese Fragen grübelte ich auf der ganzen Autofahrt bis New Hampshire. Ich versuchte, auf andere Gedanken zu kommen, indem ich vom Radio wieder zu einer Oper wechselte, aber es gab keine Arie, bei der ich nicht an Harry denken musste, und kaum dachte ich an ihn, fiel mir das Mädchen wieder ein, das über dreißig Jahre unter der Erde gelegen hatte, gleich neben dem Haus, in dem ich die wohl schönsten Jahre meines Lebens verbracht hatte.
Nach fünfstündiger Fahrt erreichte ich schließlich Goose Cove. Ich war planlos drauflosgefahren. Warum war ich eigentlich hierhergekommen und nicht nach Concord, zu Harry und Roth? Auf der Route 1 parkten am Straßenrand Satellitenübertragungswagen, und an der Abzweigung zum schmalen Kiesweg, der zum Haus führte, standen sich Reporter die Beine in den Bauch und berichteten per Liveschaltung für allerlei Fernsehsender. Als ich einbiegen wollte, drängten sich alle neugierig um meinen Wagen und versperrten mir den Weg. Einer von ihnen erkannte mich und rief: »He, das ist dieser Schriftsteller! Das ist Marcus Goldman!« Nun kam richtig Bewegung in die Meute: Fernsehkameras und Fotoapparate wurden auf meine Scheiben gerichtet, und ich hörte, wie man mir alle möglichen Fragen zubrüllte: »Glauben Sie, dass Harry Quebert dieses Mädchen getötet hat?« – »Wussten Sie, dass er Der Ursprung des Übels für sie geschrieben hat?« – »Sollte das Buch aus dem Verkauf genommen werden?« Ich wollte mich nicht dazu äußern, deshalb ließ ich die Fenster zu und die Sonnenbrille auf. Ein paar Polizeibeamte aus Aurora, die sich an Ort und Stelle befanden, um die Massen von Journalisten und Schaulustigen im Zaum zu halten, schafften es schließlich, mir einen Weg zu bahnen, und ich verschwand im Schutz der Maulbeerbäume und großen Kiefern in der Auffahrt. Ein paar Reporter riefen mir noch hinterher: »Mr Goldman, warum sind Sie nach Aurora gekommen? Was machen Sie bei Harry Quebert? Mr Goldman, warum sind Sie hier?«
Warum ich hier war? Weil es um Harry ging. Und weil er wahrscheinlich mein bester Freund war. Denn so erstaunlich es klingen mochte – und ich selbst begriff es auch erst in diesem Moment: Harry war der wertvollste Freund, den ich hatte. In den Jahren auf der Highschool und auf dem College war ich unfähig gewesen, tiefere Bindungen mit Gleichaltrigen einzugehen, geschweige denn Freundschaften fürs
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