Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Schöne am amerikanischen Recht, Goldman: Wenn es kein Gesetz gibt, erfinden Sie eben eines. Und wenn jemand es wagt, Ihnen ans Bein zu pinkeln, gehen Sie bis zum Obersten Gerichtshof. Der gibt Ihnen recht und erlässt in Ihrem Namen einen Beschluss: Goldman gegen den Staat New Hampshire. Wissen Sie, warum man Ihnen in diesem Land bei einer Verhaftung Ihre Rechte vorlesen muss? Weil in den 1960er-Jahren ein gewisser Ernesto Miranda aufgrund seines Geständnisses wegen Vergewaltigung verurteilt wurde. Und nun stellen Sie sich vor, was sein Anwalt gesagt hat: Er hat gesagt, das ist ungerecht, weil der gute Miranda nicht lange zur Schule gegangen ist und deshalb nicht wusste, dass ihm die Bill of Rights das Recht gab, die Aussage zu verweigern. Dieser Anwalt veranstaltete einen Riesenwirbel und brachte den Fall vor den Obersten Gerichtshof und das ganze Trallala, und stellen Sie sich vor, der Arsch hat gewonnen! Das Geständnis wurde für ungültig erklärt, der Beschluss in der Sache Miranda gegen den Staat Arizona erlangte Berühmtheit, und seitdem muss der Bulle, der Sie einbuchtet, zu Ihnen sagen: ›Sie haben das Recht zu schweigen und das Recht auf einen Anwalt, und wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, wird Ihnen von Amts wegen einer zur Verfügung gestellt.‹ Kurzum, dieses Blabla, das man ständig im Kino hört, verdanken wir unserem Freund Ernesto! Moral und Gerechtigkeit in Amerika, Goldman, das ist Teamarbeit: Alle können daran mitwirken. Also nehmen Sie diesen Ort ruhig in Besitz, nichts hält Sie davon ab, und falls die Polizei die Frechheit haben sollte, Ihnen auf den Wecker zu fallen, sagen Sie denen, dass es da ein juristisches Vakuum gibt, erwähnen Sie den Obersten Gerichtshof, und drohen Sie mit saftigen Schadenersatzforderungen. Das zieht immer! Ich habe nur leider keinen Hausschlüssel.«
Ich zog einen Schlüsselbund aus der Tasche. »Harry hat ihn mir damals überlassen«, erklärte ich.
»Goldman, Sie sind ein Zauberer! Aber übertreten Sie bloß nicht die Polizeiabsperrung, sonst gibt’s Ärger.«
»Versprochen. Was hat die Hausdurchsuchung eigentlich ergeben, Benjamin?«
»Nichts. Die Polizei hat nichts gefunden. Deshalb darf man auch ins Haus.«
Roth fuhr davon, und ich betrat das riesige, verlassene Haus. Ich verriegelte die Tür hinter mir und ging geradewegs ins Arbeitszimmer, um nach der berühmten Schachtel zu suchen. Aber sie war nicht mehr da. Was hatte Harry damit gemacht? Ich wollte sie unbedingt haben und fing an, die Bücherregale im Arbeits- und Wohnzimmer zu durchsuchen – vergeblich. Also beschloss ich, mir sämtliche Zimmer im Haus vorzunehmen und nach der kleinsten Kleinigkeit Ausschau zu halten, die mir Aufschluss darüber geben könnte, was sich hier im Jahr 1975 abgespielt hatte. War Nola Kellergan in einem dieser Zimmer ermordet worden?
Bei meiner Suche stieß ich auf ein paar Fotoalben, die ich noch nie gesehen oder bislang nicht bemerkt hatte. Ich schlug eines aufs Geratewohl auf und erblickte darin alte Aufnahmen von Harry und mir auf dem College: in den Vorlesungssälen, im Boxraum, auf dem Campus, in jenem Diner, in dem wir uns oft getroffen hatten. Sogar Fotos von meiner Diplomübergabe gab es. Das nächste Album war voller Zeitungsausschnitte über mich und mein Buch. Manche Textpassagen waren rot umkringelt oder unterstrichen. In diesem Moment begriff ich, dass Harry meinen Werdegang mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und fast andächtig alles aufgehoben hatte, was damit in Zusammenhang stand. Sogar einen anderthalb Jahre alten Auszug aus einer Tageszeitung von Montclair, der über die zu meinen Ehren organisierte Feier an der Felton Highschool berichtete, entdeckte ich. Wo hatte er diesen Artikel nur her? Ich erinnerte mich noch gut an jenen Tag. Es war kurz vor Weihnachten 2006 gewesen: Mein erster Roman hatte sich über eine Million Mal verkauft, und der Schulleiter meiner alten Highschool hatte sich vom Hype um den Erfolg mitreißen lassen und beschlossen, mir die in seinen Augen angemessene Würdigung zuteilwerden zu lassen.
Eine groß aufgezogene Feier hatte an einem Samstagnachmittag in der Aula der Felton Highschool vor einem aus handverlesenen Schülern, Ehemaligen und Vertretern der örtlichen Presse bestehenden Publikum stattgefunden. Die illustre Gesellschaft saß auf Klappstühlen zusammengepfercht vor einem großen Laken, das der Schulleiter nach einer triumphalen Ansprache fallen ließ, um eine große Glasvitrine mit der Aufschrift
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