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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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Leben zu schließen. In meinem Leben gab es nur Harry, und seltsamerweise stellte ich mir überhaupt nicht die Frage, ob er schuldig war oder nicht: Die Antwort hätte ohnehin nichts geändert. Das war ein komisches Gefühl. Ich glaube, ich hätte ihn lieber gehasst und ihm mit der ganzen Nation ins Gesicht gespuckt, das wäre einfacher gewesen. Stattdessen sagte ich mir nur: Er ist ein Mensch, und Menschen haben ihre Dämonen. Jeder von uns. Die Frage ist nur, wie viel man diesen Dämonen durchgehen lässt.
    Ich stellte den Wagen neben dem überdachten Hauseingang auf dem kiesbedeckten Parkplatz ab. Harrys rote Corvette stand wie immer vor dem kleinen Nebengebäude, das als Garage diente – als wäre der Meister zu Hause und alles in Ordnung. Ich wollte ins Haus gehen, doch es war abgeschlossen. Soweit ich mich erinnern konnte, war es das erste Mal, dass die Tür sich mir nicht öffnete. Ich drehte eine Runde ums Haus. Polizisten waren zwar keine mehr zu sehen, aber der Zugang zum rückwärtigen Teil des Grundstücks war durch Bänder versperrt. Also begnügte ich mich damit, mir das abgesteckte weitläufige Areal, das sich bis zum Waldrand erstreckte, aus einigem Abstand anzusehen. Ein Stück vor mir war undeutlich der gähnende Krater zu erkennen, der von den aufwendigen Grabungsarbeiten der Polizei kündete, und direkt daneben die vergessenen, langsam vor sich hintrocknenden Hortensienbüsche.
    Ich musste gut eine Stunde dort gestanden haben, als ich hinter mir ein Auto hörte. Es war Roth, der gerade aus Concord kam. Er hatte mich im Fernsehen gesehen und sich sofort auf den Weg gemacht. Seine ersten Worte waren: »Sie sind also gekommen.«
    »Ja, warum?«
    »Harry hat mir gesagt, dass Sie ein alter Dickschädel sind und hier auftauchen werden, um Ihre Nase in die Angelegenheit zu stecken.«
    »Harry kennt mich gut.«
    Roth kramte in seiner Jackentasche und zog einen Zettel heraus. »Das ist von ihm«, sagte er.
    Ich faltete das Papier auseinander. Es handelte sich um eine handgeschriebene Nachricht.
    Mein lieber Marcus,
wenn Sie diese Zeilen lesen, sind Sie nach New Hampshire gekommen, um sich nach Ihrem alten Freund zu erkundigen.
    Sie sind ein mutiger Mensch, daran habe ich nie gezweifelt. Ich schwöre Ihnen, dass ich unschuldig bin und die Verbrechen, die man mir zur Last legt, nicht begangen habe. Dennoch werde ich wohl einige Zeit im Gefängnis zubringen müssen, und Sie haben Besseres zu tun, als sich um mich zu kümmern. Kümmern Sie sich lieber um Ihren Roman, den Sie Ende des Monats Ihrem Verleger abliefern müssen. Das ist für mich das Wichtigste. Verschwenden Sie Ihre Zeit nicht mit mir.
    Alles Gute, Harry
    PS: Sollten Sie trotzdem eine Weile in New Hampshire bleiben oder ab und zu herkommen wollen, wissen Sie ja, dass Sie in Goose Cove zu Hause sind. Sie können dort so lange wohnen, wie Sie möchten. Ich bitte Sie nur um einen Gefallen: Füttern Sie die Möwen. Streuen Sie Brot auf der Terrasse aus. Füttern Sie die Möwen, das ist wichtig.
    »Lassen Sie ihn nicht hängen«, sagte Roth zu mir. »Quebert braucht Sie.«
    Ich nickte. »Wie stehen seine Aktien?«
    »Schlecht. Haben Sie die Nachrichten gesehen? Alle wissen von der Sache mit dem Buch. Das ist eine Katastrophe. Je mehr ich darüber erfahre, desto ernsthafter frage ich mich, wie ich ihn noch verteidigen soll.«
    »Von wo ist diese Information durchgesickert?«
    »Meiner Meinung nach direkt von der Staatsanwaltschaft. Sie wollen den Druck auf Harry erhöhen, indem sie die Öffentlichkeit gegen ihn aufbringen. Sie wollen ein umfassendes Geständnis, weil sie wissen, dass in einem dreißig Jahre alten Fall nichts an ein Geständnis herankommt.«
    »Wann kann ich ihn sehen?«
    »Gleich morgen früh. Das Staatsgefängnis liegt am Ortsausgang von Concord. Wo werden Sie wohnen?«
    »Hier, wenn das geht.«
    Er legte die Stirn in Falten. »Das bezweifle ich«, sagte er. »Die Polizei hat das Haus durchsucht. Es handelt sich schließlich um einen Tatort.«
    »Ist der Tatort nicht dort, wo sich das Loch befindet?«, fragte ich.
    Roth ging los, inspizierte die Eingangstür, drehte rasch eine Runde ums Haus und kehrte gleich darauf lächelnd zu mir zurück.
    »Sie würden einen guten Anwalt abgeben, Goldman. Die Tür ist nicht versiegelt.«
    »Heißt das, ich habe das Recht, mich hier einzuquartieren?«
    »Das heißt, dass es Ihnen nicht verboten ist, sich einzuquartieren.«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das verstanden habe.«
    »Das ist das

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