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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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seit ich am Burrows College in Massachusetts bei ihm studiert hatte, eng verbunden war.
    Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihn seit über einem Jahr nicht mehr gesehen und fast genauso lange nicht mehr mit ihm telefoniert. Ich rief ihn zu Hause in Aurora, New Hampshire, an.
    Als er meine Stimme hörte, meinte er spöttisch: »Ah, Marcus! Sind Sie es wirklich? Kaum zu glauben! Seit Sie ein Star sind, lassen Sie nichts mehr von sich hören. Vor einem Monat habe ich versucht, Sie zu erreichen, aber Ihre Sekretärin hat mich wissen lassen, dass Sie für niemanden zu sprechen sind.«
    Ich erwiderte unumwunden: »Mir geht’s schlecht, Harry. Ich glaube, ich kann nicht mehr schreiben.«
    Er wurde schlagartig ernst. »Was reden Sie da, Marcus?«
    »Ich weiß nicht mehr, was ich schreiben soll. Ich bin erledigt. Schreibhemmung … seit Monaten … vielleicht einem Jahr.«
    Er stimmte ein warmes, beruhigendes Lachen an. »Eine geistige Blockade, das ist es, Marcus! Schreibhemmung klingt genauso albern wie Ladehemmung beim Sex. Das Genie kriegt die Panik, genau wie Ihr Schwanz schlapp macht, wenn Sie gerade mit einer Ihrer Verehrerinnen Schubkarre spielen wollen und zu sehr daran denken, wie Sie ihr einen Orgasmus verschaffen, den man auf der Richterskala messen kann. Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Genialität, reihen Sie einfach nur ein Wort ans andere. Die Genialität kommt dann von ganz allein.«
    »Meinen Sie?«
    »Da bin ich mir sicher. Allerdings sollten Sie Ihr mondänes Leben mit den Cocktailpartys ein wenig zurückfahren. Schreiben ist eine ernste Angelegenheit. Ich dachte, das hätte ich Ihnen eingebläut.«
    »Aber ich arbeite hart! Ich tue nichts anderes mehr! Und trotzdem kommt nichts dabei heraus!«
    »Vielleicht fehlt Ihnen ja nur die richtige Umgebung? New York ist schön und gut, aber viel zu laut. Warum kommen Sie nicht hierher, so wie damals, als Sie noch bei mir studiert haben?«
    Raus aus New York und ein Tapetenwechsel! Noch nie war mir eine Einladung ins Exil sinnvoller erschienen. Mich in der amerikanischen Provinz in Gesellschaft meines alten Meisters auf die Suche nach der Inspiration für ein neues Buch machen – das war genau das, was ich brauchte. Und so brach ich eine Woche später, Mitte Februar 2008, nach Aurora in New Hampshire auf, nur wenige Monate vor den dramatischen Ereignissen, von denen ich Ihnen hier berichten werde.

    Vor diesem Fall, der im Sommer 2008 ganz Amerika erregte, hatte noch nie jemand von Aurora gehört. Es ist eine Kleinstadt am Meer, mit dem Auto etwa eine Viertelstunde von der Grenze nach Massachusetts entfernt. In der Hauptstraße gibt es ein Kino, dessen Programm im Vergleich zum Rest des Landes stets hinterherhinkt, ein paar Läden, ein Postamt, ein Polizeirevier und eine Handvoll Restaurants, darunter das Clark’s, das historische Diner der Stadt. Drumherum friedliche Wohnviertel aus bunt gestrichenen Holzhäusern mit einladenden Veranden, Schieferdächern und tadellos gepflegten Rasen. Es ist ein Stück Amerika, dessen Bewohner ihre Haustüren nicht abschließen, einer von diesen Orten, wie es sie nur in Neuengland gibt, und so beschaulich, dass man meint, hier könnte nichts Böses geschehen.
    Ich kannte Aurora gut, weil ich Harry in der Zeit, als ich noch sein Student war, oft besucht hatte. Er wohnte in einem herrlichen Haus aus Stein und massiven Kiefernbohlen außerhalb der Stadt an der Route 1 in Richtung Maine, am Ufer eines Meeresarms, der in den Landkarten als Goose Cove verzeichnet ist. Es war eine wahre Schriftstellervilla, die mit ihrer Sonnenterrasse, von der eine Treppe direkt zum Strand hinunterführte, über dem Ozean thronte. Die Umgebung war wilde Beschaulichkeit pur: der Küstenwald, die Uferstreifen mit ihren Kieseln und riesigen Steinen, die feuchten, farn- und moosbewachsenen Wäldchen, ein paar Spazierwege, die am Strand entlangführten. Man hätte sich am Ende der Welt wähnen können, hätte man nicht gewusst, dass einen nur wenige Meilen von der Zivilisation trennten. Und man konnte sich lebhaft vorstellen, wie der in die Jahre gekommene Autor, von den Gezeiten und Sonnenuntergängen inspiriert, auf der Terrasse seine Meisterwerke verfasste.
    Am 10. Februar 2008 verließ ich New York auf dem Höhepunkt meiner Schaffenskrise. Im Land ging es hoch her, denn die Präsidentschaftswahlen standen vor der Tür: Am Super Tuesday (der ausnahmsweise im Februar und nicht im März stattgefunden hatte – ein Beweis dafür, dass dies ein

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