Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
Vom Netzwerk:
entflieht Dürre, Krieg und Armut und erhält im Schlaraffenland ohne Sprachdiplom kein Bleiberecht. Gisberts Arbeit war wichtig und richtig, und er machte sie gern. Ein guter Beruf. Als Hobby schrieb er nebenbei Literaturkritiken bei Amazon. Nur positive wohlgemerkt, negative Kritiken empfand er als so unproduktiv wie das Schwarze unter dem Fußnagel. Das tat er dann aber unter seinem alten Pseudonym Travis Forster. Der alten Zeiten wegen. Aber zufrieden mit sich selbst war er nicht.
    Fasch reiste Henry durch alle europäischen Hauptstädte nach, hörte Henry auf diversen Symposien, studierte seine spärlichen Interviews, jedes seiner Zitate analysierte er. Mehrfach standen sie sich gegenüber, ihre Blicke trafen sich, aber Henry erkannte ihn nicht. Für einen so genauen Kenner der menschlichen Natur hatte er ein erstaunlich schlechtes Personengedächtnis.
    Henry hätte Hallen füllen können, wählte für seine Lesungen aber immer Buchhandlungen aus. Bei jeder Lesung war Fasch dabei. In den ersten Reihen saßen fast nur Frauen. Die meisten von ihnen im interessanten Alter zwischen dreißig und fünfzig. Fasch konnte förmlich sehen, wie sie an Henrys Lippen hingen und sich die Schenkel feucht lauschten, sich von seinen Texten penetrieren ließen und dabei so taten, als seien sie nur wegen der Kultur gekommen. Diese Lesungen waren nichts als ein geheimes Festival der Lubrikation.
    Zugegeben, starker Stoff. Was Henry da zum Besten gab, war spannend und ohne ein überflüssiges Wort geschrieben. Wenn er lässig in Maßschuhen und Tweedjackett aus seinen Büchern las, schwang ein Quantum Desinteresse mit, wie es die Cäsaren beim Anblick des Lorbeerkranzes wohl empfanden. Er las nicht ausdrucksvoll, sondern nüchtern leidenschaftslos, als wolle er bescheiden bleiben, den letzten Zug nach Hause nicht verpassen und endlich wieder allein in seinem Schreibverlies sein. Armer alter Henry, dachte Fasch, nicht mal lesen kannst du.
    Für das Signieren der Bücher nahm Henry sich viel Zeit. Er plauderte charmant und ließ sich mit seinen schmachtenden Leserinnen fotografieren. Er konnte sie alle bezaubern und nahm doch keine mit nach Hause. Irgendwann beschloss Fasch, den Lackmustest zu machen, und stellte sich in die Schlange der Wartenden. Er reichte Henry zum Signieren ein Exemplar von Besondere Schwere der Schuld.
    Â»Für GisbertFasch, bitte.«
    Henry blickte auf, sah ihm in die Augen. Der Blick eines vollgefressenen Löwen, an dem die Gazellen vorbeiziehen. Er nickte freundlich und schrieb: Für Gisbert Fasch von Henry Hayden. Das war’s. Nicht ein Wimperzucken. Er hatte ihn tatsächlich vergessen, ebenso wie die Zähne, die er ihm ausgeschlagen und die Aufsätze, die er von ihm abgeschrieben hatte. Umso besser.
    Von da an mied Fasch weitere persönliche Begegnungen, um seinen Feind nicht zu warnen. Stattdessen begann er, alle auffindbaren Bruchstücke von Henry Haydens verschollener Biographie zusammenzufügen. Er hatte damit eine Aufgabe gefunden, die ihn restlos erfüllte. Das Rauchen ließ er – Kleinigkeit. Er schlief wieder die ganze Nacht und setzte die Antidepressiva ab, die nebenbei fürchterlich dick machen. Selbst sein kreisrunder Haarausfall kam zum Stillstand. Wer seinen Feind fürs Leben findet, braucht keinen Arzt mehr.
    * * *
    Zum Mittagessen fuhr Henry in die Stadt, parkte in einer Tiefgarage am Bahnhof und warf das rote Telefon in einen Mülleimer neben dem Parkscheinautomaten. Im Lift nach oben überlegte er, ob er Betty zum Abschied eine Eigentumswohnung schenken sollte, verwarf aber den Gedanken und aß eine Bulette an einem Imbiss gleich neben dem Parkhaus, wo die Stricher sich im Winter wärmten. Henry mochte die Gegend um den Bahnhof, und er mochte Buletten mit scharfem Senf. Niemand erkannte ihn hier, es herrschte eine milde Hoffnungslosigkeit. Was hier fiel, blieb lange liegen.
    Betty eine Abtreibung vorzuschlagen, kam nicht infrage. Vielleicht würde sie ja auch von selbst drauf kommen, in diesem Fall übernähme er selbstredend die Kosten. »Wir bleiben Freunde« als Abschiedsformel war ebenfalls unpassend, schließlich waren sie ja niemals Freunde gewesen. Im Gegenteil, er hatte sie immer mehr begehrt als gemocht. Sie musste es gespürt haben, denn jedes Eindringen in sie aktivierte ihr Immunsystem. Sie wehrte sich, statt ihn zu empfangen, was ihn zusätzlich reizte, war

Weitere Kostenlose Bücher