Die Wahrheit und andere Lügen
Fasch, wie wir ihn der Einfachheit halber nennen wollen, sah von der Holzbank des Kriminalgerichts zurück in den stickigen Schlafsaal von Sankt Renata, der damals wie der Bauch einer Galeere mit kleinen Lichtluken versehen war. Sankt Renata war ein Gulag, die brutalsten Individuen herrschten über die schwachen, und Henry war der Ãbelste von allen gewesen, folglich auch der Mächtigste. Zum Einstand hatte er Gisbert zwei Vorderzähne ausgeschlagen, weil er das obere Bett haben wollte. Das obere Bett aber stand ihm nicht zu. Als Neuling musste Henry unten schlafen. Zwei Dutzend Jungen hörten im Dunkel, wie es passierte. Nach dem das Licht ausging, kam Henry wie der schauerliche Grendel in sein Bett geklettert und schlug ohne Warnung zu. Er packte ihn und zerrte ihn ins untere Bett. Keiner half, alle hatten Angst. Gisbert vergaà diese Nacht nie. Den Mund voll Blut lag er wach â während über ihm der Psychopath im Schlaf schrie und ins Bett machte.
Als Fasch Jahrzehnte später den Namen Henry Hayden in einer Literaturbeilage las, glaubte er an eine zufällige Namensgleichheit. Die Kritik sprach von einem groÃen Wurf, es folgte eine Hymne auf Stil und Kraft â Henry konnte unmöglich gemeint sein. Doch ein Foto zeigte den Verfasser. Er war es. Die graugrünen Augen, das gleiche boshafte Lächeln des Gewinners. Grendel war zurück. Gisberts Zahnlücke war längst durch zwei Stiftzähne geschlossen, aber die Erinnerung schmerzte noch immer. Er kaufte den Roman in der Buchhandlung an der Ecke, riss die Plastikschutzhülle auf und begann schon beim Laufen zu lesen.
Frank Ellis war in der Tat ein nüchterner Thriller, wirklich gut geschrieben, minimalistisch und zugleich akkurat bis ins Detail â aber keineswegs ein Jahrhundertroman, doch das tut jetzt nichts zur Sache. Jeder Satz eine Festung , so stand das Kritikerlob auf dem Umschlag von Frank Ellis. Millionen hatten es gekauft und gelesen. Fasch bekam Zahnschmerzen. Er konnte nicht nachvollziehen, wie dieses gefühllose Ungeheuer aus eigener Kraft einen Bestseller verfassen konnte. Doch wenn nicht er den Roman geschrieben hatte, wer dann? Was hatte er getan all die Jahre vom Kindergulag bis zur Veröffentlichung seines ersten Romans? Keine Spur hinterlieà er. Kein Schulabschluss und keine einzige Veröffentlichung, nicht einmal ein kleiner Beitrag in einer Anthologie. Man möchte annehmen, dass ein Psychopath zumindest ein Vorstrafenregister hinterlässt, aber nichts dergleichen war zu finden. Hayden hatte nicht studiert, nirgends ein Ansatz künstlerischen Schaffens, kein Hinweis auf Freunde oder Schriftstellerkollegen. Hatte er etwa auch unter Pseudonym veröffentlicht? Und wenn, unter welchem? Verrät sich nicht jeder noch so heimliche Künstler durch seinen Lebenswandel, sucht er nicht immer ein Publikum? Nicht so Henry Hayden. Er war direkt nach der Flucht aus der Erziehungsanstalt abgetaucht, um Jahrzehnte später als Komet am Literaturhimmel vorbeizuziehen.
Gisbert begann seine Recherchen still und von der Ãffentlichkeit unbemerkt, wie alles, was er tat â zumindest auf künstlerischem Gebiet. Sein Traum von der Schriftstellerkarriere war mit ihm in die Jahre gekommen. Manuskripte versandte er schon lange nicht mehr. Die weiÃen Nächte durchgehefteten Papiers in Copyshops waren passé, einschlieÃlich all der nutzlosen Lesungen vor literarischen Pedanten mit gelb gerauchten Zeigefingern und Tabakkrümeln zwischen den Zähnen. Elf Jahre lang hatte Fasch an seinem Roman über die Steinzeitwanderer geschrieben. Weil er nichts als standardisierte Absagen erhielt, brachte er sein Lebenswerk schlieÃlich unter dem Pseudonym Travis Forster im Selbstverlag heraus. Das führte direkt in die Insolvenz. Weitere sechs Jahre musste er nun unter der Knute des Konkursverwalters vegetieren. Die Exemplare türmten sich ungelesen in seiner kleinen Wohnung, schlieÃlich lieà er sie zu Dämmwolle verarbeiten. Nach dieser inneren Bücherverbrennung hörte er mit dem Schreiben auf. Seine Novellen, Theaterstücke und Hörspiele blieben in der Schublade. Er nannte sich wieder Gisbert Fasch und lieà sein Pseudonym aus dem Pass entfernen. Basta.
Jetzt arbeitete Fasch wieder als Sprachlehrer für Ausländer, die meisten unter ihnen Afrikaner. Er half ihnen, eine neue Existenz zu gründen. Da kommt so einer mit dem Ruderboot über den Atlantik,
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