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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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stickig heißen Auto und zerdrückte kleine Tierchen, die über den Wagenhimmel krochen. Das Beschatten des Gegners, in Literatur und Film so interessant und kurzweilig, ist in Wirklichkeit ein fadenziehender Zeitkäse von unergründlicher Konsistenz. Man sitzt so da, produziert Kohlendioxid, es dehnt und zieht sich ad infinitum, man möchte schlafen, darf nicht, weil man ja nie weiß, ob nicht doch noch irgendetwas Erwähnenswertes passiert, in seiner Freudlosigkeit zerdrückt man Kerbtiere.
    Fasch fächelte sich mit der zerlesenen Zeitung Kühlung zu und schaute zu Henrys Anwesen auf dem Hügel. Die Augen tränten ihm vom Observieren. In einem englischen Country Living- Magazin für geschmackvolles Leben war ein großformatiges Foto von Henrys livingroom erschienen, mit dem Hausherrn auf dem Chesterfield-Sofa neben seiner Frau und dem Hund. Lange hatte Fasch das Foto studiert, nach versteckten Hinweisen auf den Ort gesucht. Die Frau an seiner Seite sah gebildet und sympathisch aus, etwas esoterisch Verklärtes war an ihr. Auf dem Bild trug sie gefütterte Stiefel und einen Tweed-Wendeponcho. Henry hatte, ganz der alte Trophäensammler, einen Arm um sie gelegt und sich auf das Sofa gefläzt. Im Hintergrund unscharf ein Panoramafenster, natürlich dunkle Regale voller Bücher, ein Kamin, wie unverzichtbar, und seitlich ein schwarzer Hund in der aufrechten Sitzhaltung eines spanischen Granden. So ganz und gar Klischee war dieses Wohnzimmer, so vollständig geschmackvoll und passend für einen Menschen wie Hayden, der miterlesenem Gerümpel und den passenden Säugetieren dazu seine maligne Persönlichkeit kaschierte. Zum Kotzen.
    Das Kreuzworträtsel hatte Fasch inzwischen vollständig ausgefüllt, einschließlich aller Nebenflüsse und nordischer Gottheiten, der Wagenhimmel war ein blutiges Fleckenmeer. Ab und an wehte ein schwacher Windzug durch die offenen Seitenfenster, brachte den Geruch von geschnittenem Gras und ließ das kleine Foto seiner Mutter Amalie am Rückspiegel pendeln.
    Auf dem Rücksitz lag seine alte Aktentasche. Sie hatte mittlerweile das Gewicht eines zwanzig Wochen alten Säuglings erreicht und enthielt alles, was es über und von Henry Hayden zu lesen gab. Von der Tasche trennte er sich keine Minute mehr. In den letzten Wochen war er mehrmals schreiend aufgewacht, weil er sie im Traum verloren hatte.
    Was Fasch bisher über Henry zusammentragen konnte, erlaubte eine gesicherte Rekonstruktion der ersten elf und der letzten neun Lebensjahre. Dazwischen klaffte noch immer ein Zeitloch von fast fünfzehn Jahren. In der Biographie jedes Menschen gibt es blinde Flecken und dunkle Materie, darunter Dinge, die gerne ausgelassen werden, weil sie peinlich oder einfach unwichtig sind. Aber einen Zeitraum von fünfzehn Jahren zu unterschlagen, ist zu groß, um unauffällig zu sein. Es fehlte die gesamte Jugend.
    Henry hatte ein geheimes Leben geführt – irgendwo und irgendwie. Das allein war schon eine Leistung, denn Verschwinden ist eine Kunst. Es bedeutet Verzicht und Abstinenz. Verzicht auf Heimat, Familie und Freunde, auf Sprache und vertraute Gewohnheiten. Und wem davon erzählen? Mit wem teilen? Selbst Doktor Mengele, der immer wieder die Verstecke wechseln musste, hinterließ ein Tagebuch und Spuren. Schweigen ist gegen die Natur des Menschen stand zu Beginn von Frank Ellis . Eindeutig ein versteckter Hinweis auf seine verborgene Biographie.
    Plötzlich taucht er also wieder auf und publiziert Romane. Einfach so. Ohne Anlauf, ohne Übung, ohne Fehler. Jeder Roman erzählt auch über den Autoren, ganz gleich, wie raffiniert er sich verbirgt. Gisbert Fasch glaubte, dass es in Haydens Romanen, ob er sie nun tatsächlich selbst verfasst oder einfach geraubt hatte, nur so von versteckten Hinweisen wimmelte, man musste nur den Schlüssel finden, sie zu dechiffrieren.
    Henrys Wagen kam in hohem Tempo durch die Pappelallee die Anhöhe herunter und zog eine Staubfahne hinter sich her. Fasch warf den halb vollen Teebecher aus dem Fenster, ließ den Motor an und trat das Gaspedal bis zur Bodenplatte durch. Er hatte Mühe, dem Wagen zu folgen, denn er war ein ungeübter Fahrer. Die abgefahrenen Reifen des sechzehn Jahre alten Peugeots rutschten in den Kurven, der Wagen schlingerte und machte dabei hysterische Geräusche.
    Nach etwa fünf Kilometern an einer Gabelung, wo es rechts zur Autobahn und

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