Die Wahrheit und andere Lügen
die Batterie kollerte aus dem Plastikfach. Als Henry versuchte, sich in der Dunkelheit auf den Rücken zu drehen, löste er die Harpune aus. Mit einem trockenen Schlag fuhr der Stahlpfeil direkt neben seinem Ohr in den Balken. Er drang einen halben Finger tief ins Eichenholz. Hätte ihn der Harpunenpfeil ins Gesicht getroffen, wäre er bis ins Stammhirn gedrungen. In dieser Lage musste Henry lachen, es war in der Tat nicht unkomisch, denn wer sich auf dem Dachboden seines Hauses selbst harpuniert, darf eine lobende Erwähnung beim Darwin Award erwarten. Eine Weile blieb Henry zusammengekrümmt liegen.
Der Marder kam von hinten und kletterte über seine Beine. Henry spürte die Krallen an seinen Waden. Seidenweich und warm fühlte sich sein Fell an, als er an Henrys Taille entlang bis zum Oberarm glitt. Das Tier schnupperte an ihm herum, ein Tasthaar kitzelte seine Schulter. Der Marder war gekommen, um seine Beute zu begutachten. Henry schätzte seine Lage realistisch ein. Wenn er hier liegen bliebe, würde der Marder seine Leiche fressen und eine Familie gründen. Er griff nach dem Marder, erwischte den Schwanz, das Vieh quiekte und biss zu. Die spitzen Zähne durchbohrten den Nerv oberhalb seines Handgelenks. Henry zuckte zurück, lieà los, trat nach dem Marder und rammte sich dabei den Harpunenpfeil ins Ohr. Nachdem der Schmerz abgeklungen war, beschloss Henry, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen, schloss die Augen, und nach wenigen Atemzügen schlief er ein.
Haarfeine Lichtstrahlen drangen durch Spalte im Dach. Henry roch beim Erwachen das faulige Sekret, das der Marder auf seinem Unterhemd verspritzt hatte. Der Marder hatte ihn markiert! Du hast hier nichts zu suchen , bedeutete seine stinkende Signatur, du bist in mein Habitat eingedrungen, wo du mich nicht besiegen kannst.
Henry begann den Rückzug und schob sich zwischen den Balken hindurch. Weitere Splitter schoben sich in seine Haut. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er schlieÃlich das Loch in Marthas Zimmerwand erreichte und sich zurück durch die Ãffnung in sein eigenes Habitat zwängte. Poncho lag auf Marthas Bett und wedelte freudig mit dem Schwanz. Die treue Seele hatte hier auf ihn gewartet. Der Hund beschnüffelte seine Hand, er roch den Marder. Henry fühlte einen warmen Strom von Dankbarkeit. Er umarmte seinen Hund. »Mein Freund, mein guter Freund, du weiÃt, dass ich ein komplett wertloser Idiot bin, und bleibst dennoch bei mir«, flüsterte er ihm zu. Henry begann, sich die Splitter aus der Haut zu ziehen.
Unten klingelte das Telefon. Henry schaute auf und lauschte. Das Klingeln brach ab und begann erneut. Das musste Betty sein. Es war höchste Zeit, ihr zu erzählen, was sich wirklich an den Klippen ereignet hatte.
Als er geduscht und mit bandagiertem Handgelenk die Treppe hinunter in die Küche kam, klingelte das Telefon nicht mehr. Henry sah auf dem Display, dass Betty viermal angerufen hatte. Unschlüssig, ob er sie zurückrufen sollte, öffnete er eine Dose Premium-Hundefutter für Poncho und schmierte sich ein Scheibe Brot mit Trüffelpastete. Wieder klingelte das Telefon. Henry sah, dass es nicht Betty war und antwortete. Der freundliche Jenssen meldete sich mit sachlicher Stimme.
»Wir haben Ihre Frau gefunden, Herr Hayden.«
Man hatte Marthas Leiche unweit am Küstenabschnitt soundso gefunden. GröÃe, Gewicht und Haarfarbe stimmten überein. Jenssen fragte einfühlsam, ob Henry sich imstande sehe, in die Gerichtsmedizin zu kommen, um die Tote zu identifizieren.
Die kalte Umarmung der Angst drückte Henry die Luft ab. Nachdem er die Adresse der Gerichtsmedizin notiert hatte, legte er das Telefon vorsichtig ab, als sei es aus ungebranntem Porzellan, und spürte, wie unter ihm der Boden nachgab. Er hielt sich am Tresen der Kücheninsel fest, als der Raum, das ganze Haus um ihn, wie durch einen unsichtbaren Schacht abwärts ins Innere der Erde raste. Mit zunehmender Geschwindigkeit wurde er schwerelos, verblüfft über den Effekt der Levitation, streckte er die Arme aus und schlug hart mit dem Kinn auf die Tischplatte.
X
G isbert Fasch hatte die Meldung über den Badetod von Henrys Frau auch gelesen. Ihr Name wurde nicht erwähnt, nicht einmal ein Foto von ihr war abgebildet, selbst im Tod wurde ihr kein Einzeltitel gewährt, sie blieb auch post mortem nur die Ehefrau von .
Seit vier Stunden saà er bereits in seinem
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