Die Wahrheit und andere Lügen
links zur KüstenstraÃe ging, hatte er Henry bereits verloren. Nach der Geschwindigkeit zu urteilen, mit der er sein Haus verlassen hatte, war er in groÃer Eile. Wer es eilig hat, nimmt die Autobahn, möchte man denken. Fasch zögerte kurz, entschied sich dennoch gegen die Autobahn und bog nach links Richtung Küste ab.
Henry hatte tatsächlich die schmale, gewundene KüstenstraÃe gewählt, weil er die letzte Gelegenheit nutzen wollte, seinen Maserati auszufahren. Er erwartete, dass die Polizei ihn gleich dabehalten würde, deshalb hatte er eine kleine Reisezahnbürste mitgenommen, seine Lesebrille und eine Taschenbuchausgabe von Paul Austers Sunset Park , sollte es in der Zelle nichts zu lesen geben, man hört ja, die Untersuchungshaft soll um einiges unerfreulicher sein als der Gefängnisaufenthalt nach dem Urteil.
Von seinem Anwesen waren es etwa vierzig Kilometer bis zum Institut der Rechtsmedizin, er würde über eine Stunde zu früh ankommen. Henry dachte an seinen Hund. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, ihn mit dem Spaten zu erschlagen. Wer sollte sich um ihn kümmern, wenn er nicht mehr zurückkam? Im Sommer wollte er den alten Brunnen freilegen und die Bleiglasfenster der Kapelle restaurieren lassen. Aber nun würde alles verfallen, versteigert werden oder mit Bulldozern eingeebnet wie das Haus von Dutroux.
Vermutlich hatten Polizeitaucher Marthas Leiche aus dem Subaru geborgen. Die Kriminalpolizei wusste also schon, dass der Wagen Betty gehörte, und mit Sicherheit hörten sie bereits sein Telefon ab. Das erklärte, warum Betty so hartnäckig versucht hatte, ihn zu erreichen. Sie kooperierte mit der Polizei, um nicht für den Mord an Martha bestraft zu werden â wer konnte es ihr verübeln, an ihrer Stelle hätte Henry das Gleiche getan. Es war doch gerade das Pragmatische, was Henry so an ihr schätzte. Es dürfte nun schwierig werden, Marthas Tod als Badeunfall zu deklarieren, aber wozu hat man Anwälte? Sie werden dafür bezahlt, sich Erklärungen ausdenken. Henry konnte sich die besten Anwälte leisten, und seit O. J. Simpsons Freispruch hält man nichts mehr für unmöglich.
Henry sah seinen Verfolger im Rückspiegel. Der rote Wagen kam näher, hielt dann etwa zweihundert Meter Abstand zu ihm. Im Rückspiegel war nicht zu erkennen, wie viele Personen in dem Wagen saÃen, zumal das Sonnenlicht sich auf der Frontscheibe spiegelte. Die Polizei würde wohl kaum solche Dilettanten hinter ihm herschicken. Henry verlangsamte das Tempo, das Auto hinter ihm wurde ebenfalls langsamer. Sobald er wieder beschleunigte, schloss der rote Wagen auf. Vielleicht waren es nur Touristen oder Vogelliebhaber, die zu dieser Zeit des Jahres an die Küste kamen, um die Paarungsflüge der Seevögel zu beobachten. Der Verfolger konnte auch nur das Trugbild seines Gewissens sein, dachte Henry, schlieÃlich ist die Welt voller Gefahren für den, der Böses ahnt.
Henry beschleunigte, der kleine Wagen fiel weit zurück. Hinter einer von hohen Büschen verdeckten Biegung machte er eine Vollbremsung, setzte seine Sonnenbrille auf, stieg aus dem Wagen und wartete auf seinen Verfolger. Das Aerosol der Brandung legte sich als Schleier auf seine Sonnenbrille. An dieser Stelle fiel die Küste etwa dreiÃig Meter ab, starke Betonblöcke waren als Fallschutz vor dem Abgrund eingelassen. Der Wind heulte zwischen den Felsen herauf, Wolken trieben Schatten über die KüstenstraÃe. Henry sah Möwen über sich kreisen. Eine halbe Minute verging, dann hörte Henry den Wagen kommen. Er kam in hohem Tempo und kreischenden Pneus um die Biegung.
Fasch sah Henry vor seinem Auto stehen. Kein Zweifel, er war es. Gelassen stand er da, die Hände in den Hosentaschen. Noch immer war sein Haar dicht, seine Schultern breit, er trug ein kariertes Jackett mit Lederflicken am Ãrmel, ähnlich wie auf dem pompösen Porträtfoto, das all seine Buchumschläge verschandelte.
Mit dem Aufprall gegen den Betonblock barst die Frontscheibe in Millionen Fraktale. Sein Gesicht raste hindurch und wieder zurück. Alles verlangsamte sich und begann zu rotieren. Im Zentrum dieser kreisenden Welt sah Fasch das Foto seiner Mutter Amalie, das still stand, während alles andere darum sich bewegte. Er überlegte, wann er sie zum letzten Mal angerufen hatte und was er ihr zum siebzigsten Geburtstag schenken sollte. Dann
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