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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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nicht mehr der geringste Zweifel.
    Auf dem Polizeirevier meldete Betty ihren Subaru als gestohlen. Als sie unter den forschenden Blicken des Beamten das Formular für die Versicherung ausfüllte, spürte sie, dass ihre Brüste schmerzten und ihr erneut übel wurde. Sie konnte sich nicht entsinnen, wann sie zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Augenblicke später erbrach sie säuerliches Wasser auf dem Männerpissoir, weil die Damentoilette besetzt war. Der Grund für ihre Übelkeit war nicht Moreanys Heiratsantrag und auch nicht Henrys absurde Geschichte vom Tod seiner Frau am Strand. Es war eindeutig das Kind in ihrem Bauch. Lange ließ sich das nicht mehr verbergen. Sie musste dringend mit Henry die weitere Vorgehensweise besprechen.
    Sie verließ das Revier durch die stählerne Sicherheitstür und lehnte sich an die sonnenbeschienene Ziegelwand, die das Areal umschloss, zog mechanisch eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und inhalierte. Der Mentholrauch schmeckte ekelhaft. Betty warf die Zigarette mitsamt der Packung auf die Straße und kaufte sich an einem Kiosk eine Zeitung.
    Frau des Schriftstellers Henry Hayden ertrunken, stand auf der ersten Seite relativ klein am unteren Rand. Es war nur eine kleine Notiz ohne Foto. Betty kramte ihr Telefon aus der Tasche und rief Henry an. Da sie wusste, dass er keinen Anrufbeantworter besaß, ließ sie es lange klingeln. Henry antwortete nicht. Betty wartete etwa eine Minute und versuchte es erneut.
    Das Vieh hatte ihn gebissen. Henry spülte die Wunde mit klarem Wasser aus und untersuchte sie. Bis auf die Knochen waren die spitzen Zähne eingedrungen und hinterließen blaurote Löcher unterhalb des Handgelenks. Unten in der Küche klingelte das Telefon. Henry ignorierte es und sah in Marthas Badezimmerspiegel.
    Sein Gesicht war schwarz von Staub und Spänen, in den Haaren hingen mumifizierte Insektenlarven und Staubweben. Wie Indiana Jones ohne Hut sah er aus. Das linke Ohr war blutverkrustet, sein Unterhemd in Streifen gerissen, Arme, Bauch und Beine waren gespickt mit Holzsplittern.
    Nachdem er in aggressiver Unrast mit dem Vorschlaghammer die Wand hinter Marthas Bett geöffnet hatte, war er mit einer kleinen Harpune bewaffnet auf Marderjagd gegangen. Es war ein komplett absurdes Manöver, das Sigmund Freud zurecht »Symptomhandlung« nennt, weil sie » … etwas zum Ausdruck bringt, was der Täter selbst nicht in ihnen vermutet, und was er in der Regel nicht mitzuteilen, sondern für sich zu behalten beabsichtigt«. Na, wem kann man’s verdenken.
    Zwischen Dachziegeln und Wärmeisolierung zog sich ein schmaler Kriechraum. Henry war durch das Loch in der Wand ins Dach gestiegen und wie ein Soldat auf dem Bauch über die ungehobelten Bohlen gerobbt. Immer wieder hielt er inne, lauschte und arbeitete sich weiter vor. Er konnte die Ausdünstungen des Tieres riechen. Nach einer Weile hörte er das Tippeln der gebogenen Krallen auf dem Holz, spannte die Gummizüge der Harpune, schaltete das Stirnlicht aus und wartete mit angehaltenem Atem.
    Doch auch der Marder ist ein Jäger. Er konnte besser sehen, hören und riechen als Henry – und das hier war sein Habitat. Das Tier spürte die Gefahr, kam nicht aus seinem Versteck, sein Instinkt schützte es. Tiere verstehen nicht viel und wissen doch alles. Menschen irren, weil sie glauben, Menschen rennen in ihr Verderben, weil sie hoffen. Tiere hoffen nicht, sie sehen nicht in die Zukunft und zweifeln nicht an sich. Deshalb kam der Marder nicht aus seinem Versteck.
    Henry fand Eierschalen, Federn, Knochen und scharf riechende Exkremente. Sie waren noch weich und ölig. Als er sich weiter durch das Labyrinth der alten Eichenbalken hindurchzwängte, schoben sich lange Holzsplitter in seine Haut. Er ignorierte den Schmerz. Umso besser, dachte er, wenn das Drecksvieh mein Blut riecht, wird es vielleicht einen Fehler machen und näher kommen. Aber das Drecksvieh zeigte sich nicht.
    Irgendwann stellte Henry fest, dass er die Orientierung verloren hatte. Marthas Zimmer lag an der Westseite des Hauses, das Dach hier war gut dreißig Meter lang. Er war vielleicht zwanzig Meter weit gekrochen. Von irgendwo pfiff Wind durch einen Spalt und blies ihm vertrocknete Insekten in die Nase. Er musste niesen und versuchte, sich in der Enge des Raumes umzudrehen. Bei diesem Wendemanöver streifte er das Stirnlicht ab, das Licht erlosch,

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