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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Unappetitliches, das man verbergen muss, bevor die Gäste kommen. Wenn überhaupt, dann erzählte er von der Zeit, da Betty ihn schon kannte. Es schien ihr, als wähle Henry seine Vergangenheit für jeden passend zum Anlass. Wie ein Kaleidoskop drehte er daran und ließ so immer etwas anderes von demselben sehen.
    Moreany hatte ihr in seinem Jaguar auf dem Parkplatz vor dem Verlagsgebäude einen Heiratsantrag gemacht. Er sprach offen von seinen Gefühlen für sie und vom Erbe seines Vermögens, wenn er einmal nicht mehr da sein werde. Betty war überrascht und wahrhaftig gerührt, spürte dabei eine aufsteigende Übelkeit und bat sich Bedenkzeit aus, was sie anschließend bereute, denn da gab es nichts zu bedenken. Mit einem Wangenkuss trennten beide sich auf dem Parkplatz. Moreany ging beschwingt über den Parkplatz, Betty schloss ihren Mietwagen auf, um zur Polizei zu fahren. Einer alten Gewohnheit folgend, blickte sie zum Fenster in der dritten Etage auf. Dort stand Honor Eisendraht am Fenster.
    Honor riss ein Blatt vom Drachenbaum und zerrieb es zwischen den Fingern. Sie hatte den Kuss am Jaguar beobachtet, sah nun Moreanys beflügelten Gang über den Parkplatz und fühlte ein starkes Verlangen, sich die Haut vom Gesicht zu kratzen. Als sie damals bei Moreany angefangen hatte, war auch sie jung und begehrenswert gewesen. Warum nur, warum hatte sie all die Jahre auf ihrem Bürostuhl geschwiegen, gedient und gewartet, bis irgendwann eine Jüngere kommen musste, um ihr alles zu nehmen!? Unsere schlimmsten Fehler sind bekanntlich die, welche wir nicht bemerken.
    Moreany kam heftig atmend ins Vorzimmer, er musste statt des Fahrstuhls die Treppen genommen haben. Honor fragte sich, ob er tatsächlich glaube, der Tod mache bei ihm eine Ausnahme und schenke ihm zusätzlich einen Tag für diese lächerliche Übung.
    Â»Hat man die Ärmste gefunden?«, fragte sie.
    Moreany verstand sofort, wen sie meinte. »Nein. Sie ist wohl in eine Strömung geraten, man wird sie niemals finden.«
    Moreany ging in sein Büro. Die Tür ließ er wie gewohnt offen. Honor hörte Papier rascheln. Sie stand aus ihrem Stuhl auf, strich ihren Rock glatt und betrat sein Arbeitszimmer. Moreany wühlte auf seinem Schreibtisch herum, er war immer noch außer Atem.
    Â»Wie geht es Herrn Hayden?«
    Â»Erstaunlich gut«, entgegnete Moreany. »Erstaunlich.«
    Â»Kann ich irgendetwas tun? Soll ich eine Erklärung für die Presse vorbereiten?«
    Moreany unterbrach seine Suche, stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch. »Honor, das wäre wundervoll. Schreiben Sie bitte nur ›verstorben‹, keine Details, und legen Sie’s mir hin.«
    Â»Ich mach einen Baldriantee.«
    Â»Nicht nötig. Ich muss gleich wieder weg.«
    Â»Ein Herr Fasch hat dreimal angerufen.«
    Â»Wer ist das?«
    Â»Er sagt, er sei ein alter Schulfreund von Herrn Hayden.«
    Honor Eisendraht wartete am Fenster, bis Moreany in seinen Wagen stieg und wegfuhr. Sie betrat sein Arbeitszimmer. Nachdem sie sich einen doppelten Scotch aus seiner Glaskaraffe eingegossen hatte, die auf dem Tischchen aus schwarzem Ebenholz stand, setzte sie sich an seinen Schreibtisch. »Venedig müssen wir verschieben«, hatte Moreany zu Betty gesagt, als die Nachricht von Martha Haydens Tod kam. Ja, dachte Honor, fahrt nur, fahrt da nur hin. Da gibt’s eine laguna morta . Da werd ich auf dich warten, Betty, du verfluchte Hure, und dich ersäufen.
    Sie trank das Glas aus und begann die Schubläden zu durchsuchen. Bei der Gelegenheit entfernte sie ein blondes Haar und eine dicke, tote Fliege aus der Stiftablage. Honor suchte nach Reiseunterlagen, Flugtickets oder einer Hotelbuchung in Venedig. Die mittlere Schublade war verschlossen. Honor ertastete unter der ledernen Schreibtischauflage den Schlüssel und schloss auf. Neben einigen Notizen und ausgeschnittenen Presseberichten fand sie eine leere Pillendose und etwas Bargeld. Ganz unten lag ein unbeschriftetes, gelbes Kuvert im A5-Format. Es war nicht verklebt. Mit spitzen Fingern öffnete sie es. Darin waren zwei kernspintomografische Bilder von Moreanys Lendenwirbeln und ein histologischer Befund der Tumoren, die seine Wirbelkörper durchsetzt hatten.
    Mit dem Befund in der Hand eilte Honor in ihr Vorzimmer mischte die Tarot-Karten und deckte die oberste Karte auf. Es war wiederum die Turmkarte. Nun bestand

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