Die Wahrheit und andere Lügen
hierhergebracht?«
* * *
Man gab ihm ein Glas Wasser. Im Arztzimmer der Notaufnahme wusch sich Henry das Blut von den Händen und schilderte, wo es passiert war, was er gesehen und getan hatte. Dass er seinem Verfolger hinter der Kurve aufgelauert hatte, erwähnte Henry nicht â warum auch? Halb volle Tassen und angebissene Wurstbrote sah er auf einem Tisch liegen, in Eile zurückgelassen, um anderen zu helfen.
»Haben Sie ihm etwas aus der Brust gezogen?«, fragte der Arzt.
»Ja. Da steckte ein Stück Metall drin, es hat scheuÃlich geblubbert. Ich dachte, das stört vielleicht beim Atmen.«
»Er hat einen Pneumothorax, er wäre erstickt.«
»Dann war das richtig?«
»Sie haben ihm das Leben gerettet.«
Henry legte seine Papiere vor, es wurde ein Protokoll angefertigt, das Henry unterschrieb. Eine hübsche Krankenschwester brachte sein Jackett aus dem Wagen. Der weiÃe Kittel stand ihr phantastisch. Warum nur lieben Männer Uniformen an Frauen?, fragte Henry sich.
»Die Polizei wird sich bei Ihnen melden, Herr Hayden.«
»Das würde mich nicht wundern.«
Er schaute auf die Uhr. Die Zeit wurde knapp, die Summe der Ereignisse unübersichtlich. Noch war es nicht zu spät für seinen Termin in der Gerichtsmedizin, weil er früh losgefahren war, aber sollte er in diesem Aufzug zu seiner eigenen Verhaftung fahren?
»Sie haben nicht zufällig eine Hose und ein frisches Hemd für mich?« Der Arzt verschwand kurz im Nebenzimmer und kam mit einer Hose und einem Hemd zurück. »Die hier ist vom Oberarzt, und das Hemd ist von mir.« Beides passte, die Hose war ein wenig eng. »Schicken Sie alles einfach zurück ans Krankenhaus.«
Auf dem Weg durch den grauen Flur der Notaufnahme lief ihm die Krankenschwester nach. Sie trug ihm ein zweites Mal sein Jackett hinterher.
»Sie sind Schriftsteller, hab ich recht?«
»Und Sie?«
»Wenn ich schreiben könnte wie Sie, wäre ich bestimmt keine Krankenschwester. Herzliches Beileid, Herr Hayden.«
»Wofür?«
»Ihre Frau. Ich habâs in der Zeitung gelesen. Kann ich ein Foto von uns machen?«
»Ein andermal. Wenn ich was Passendes anhabe.«
Henry zog im Auto sitzend das Jackett über. Die blutverkrustete Bandage am Handgelenk wickelte er ab und lieà sie in den FuÃraum des Wagens fallen. Er besah sich die Bisswunde des Marders. Rundherum war die Haut gerötet und leicht angeschwollen. Für einen Augenblick überlegte er, ob er zurück in die Notaufnahme gehen sollte, um sich die Lappalie mal ansehen zu lassen, aber dann verwarf er den Gedanken. Es war einfach zu lächerlich. Eben noch hatte er einem Fremden einen Pfahl aus der Brust gezogen, da lag seine tote Frau in der Gerichtsmedizin, und ihn erwartete lebenslänglich Gefängnis. Als Henry losfuhr, verglomm bereits die Erinnerung an den Unfall wie ein Traum, den das Erwachen tilgt.
Er hatte keine konkrete Vorstellung von dem, was ihn erwartete. Bei der Verhaftung würde er kein Geständnis machen, sondern abwarten, was man gegen ihn vorbringen würde. Vor Gericht sollte man als Beschuldigter wenig sagen. Besser noch schweigen. Man darf auch lügen. Als Angeklagter genieÃt man das seltene Privileg, lügen zu dürfen. AuÃerdem steht man im Mittelpunkt. Nicht selten erlebt ein Verbrecher auf der Anklagebank zum ersten Mal Bestätigung und echtes Interesse an seiner Person und seinem verpfuschten Leben. Manche sind derart angetan davon, dass sie mehr gestehen als nötig, nur um zu genieÃen, dass man ihnen zuhört. Möglicherweise wäre so einer nie Verbrecher geworden, hätte man ihm etwas früher von dem kostbaren Elixier der Anerkennung gegeben. Die Opfer eines Verbrechens, die Hinterbliebenen, warten vergebens darauf, denn der Lohn des Leidens besteht bekanntlich darin, der Bestrafung zu entgegen. Anerkennung ist selten gerecht.
Henry hatte jetzt alle Zeit der Welt. Den Rest seines Lebens würde er mit Warten und Erinnern verbringen. Vielleicht sogar ein Buch schreiben und ein besserer Mensch werden. Und bereuen würde er natürlich auch.
Das grau verputzte Gebäude der Rechtsmedizin war von zweckbestimmter Schlichtheit, auf jegliche Ornamentik war verzichtet worden. Auf den Stufen des Eingangs hockte Jenssen mit einen Kaffeebecher in der Hand und blätterte in einem schmalen Hefter. Als er Henry bemerkte, stellte er den Becher auf
Weitere Kostenlose Bücher