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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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implodierte etwas in seiner Brust, etwas drang von den Seiten auf ihn ein und wurde heiß.
    Der Peugeot blieb auf dem Dach liegen. Ein Glasregen legte sich prasselnd auf die Straße. Henry rannte die dreißig Meter zu den Resten des Autos. Er stolperte beinahe über die dicke, braune Aktentasche, die auf der Straße lag. Papier flatterte heraus. Das Autowrack zischte wie ein verwundeter Drache. Ein Gemisch aus Flüssigkeiten floss aus dem weit aufgerissenen Metallmaul die Straße herunter. Das Dach war zerfetzt, eine Tür und sämtliche Scheiben fehlten, das rechte Hinterrad drehte sich noch. Henry zog sein englisches Kaschmirjackett aus, so viel Zeit muss sein, und kniete sich in die schillernde Lache, um ins Innere des zertrümmerten Wagens zu schauen. Er sah zuerst den Arm, die Finger der Hand zuckten, dann den Mann, der verdreht und wimmernd auf der Rückbank lag. Er lebte noch, aber vom Autofahren verstand er nicht gerade viel.
    Henry griff den Arm und zog. Der Mann stöhnte. Er ließ los, kroch, so weit er konnte, in das Wrack, umfasste die blutige Brust des Mannes und zog ihn heraus. Ohne nennenswerten Widerstand glitt der Körper auf die Straße. Seine Augen waren geöffnet, aber er schien nicht zu begreifen, das Gesicht begann bereits anzuschwellen, ein Blutfaden lief aus dem Ohr. In der rechten Brustseite steckte der abgebrochene Schaft einer Kopfstütze. Henry lauschte am offenen Mund des Verletzten und hörte den gurgelnden Atem.
    Henry umfasste den Schaft in der Brust und zog ihn heraus, die Rippen knackten. Er lauschte wieder. Nach wenigen Atemzügen wurde das Gurgeln schwächer, die Brust des Mannes hob und senkte sich schnell. Viel Blut drang nun aus der Wunde, Henry riss einen Streifen Stoff aus seinem Lieblingshemd und schob es mit dem Finger in das Loch in der Brust, etwa so, wie man eine Pfeife stopft.
    Am Kilometerstein acht, nur wenig vom Abzweig entfernt, wo der Forstweg links zu den Klippen führte, bog Henry rechts in Richtung Stadt ab. Fasch lag auf der Rückbank, den Kopf auf der Aktentasche, die Henry fürsorglich geborgen hatte. Ein Blutfleck breitete sich um die Tasche auf dem Nappaleder des Rücksitzes aus. Seine hochgelegten Beine ragten aus dem hinteren Seitenfenster. Er wimmerte leise, war aber nicht bei Bewusstsein. Der Verkehr wurde dichter. Henry beherrschte den Wagen souverän bei jedem Überholmanöver, er fuhr, man muss es wirklich sagen, das Rennen seines Lebens und erreichte nach weniger als zwanzig Minuten das Hospital.
    Vor der Notaufnahme stand ein Ambulanzwagen mit geöffneten Hecktüren. Ein Sanitäter im leuchtenden Signalrot saß auf einer Rollbahre und las Zeitung, als Henry hupend auf die Rampe rollte. »Ich habe einen Verletzten!«, rief Henry aus dem Wagenfenster.
    Stoisch und ohne eine überflüssige Bewegung legte der Sanitäter seine Zeitung zusammen. Ein Dutzend Verletzte sah er jeden Tag, Tote und Sterbende, delirierende Säufer, weinende Mütter, und keine gottverdammte Minute ließ man ihn in Ruhe seine Zeitung lesen. Wortlos half er, den bewusstlosen Mann auf die Bahre zu hieven und in die Notaufnahme zu schieben.
    Müde und unschlüssig, ob man noch für ihn Verwendung hatte, setzte Henry sich in seinen Wagen und überlegte, ob er Jenssen anrufen sollte, um den Termin in der Gerichtsmedizin abzusagen. Ihm graute jetzt bei dem Gedanken, Marthas von Verwesung entstellten Körper wiederzusehen. Dennoch wollte er ihr Gesicht anschauen, es berühren. Er war es ihr einfach schuldig. Gewiss würde ihre Miene den Schrecken des letzten Momentes widerspiegeln, als sie ihren Irrtum erkannte. Mit ihrem synästhetischen Extrasinn und all ihrer Menschenkenntnis hatte sie sich in ihm getäuscht. Getäuscht aus Liebe bis zum Moment, da er feige von hinten kam und sie ins schwarze Wasser stieß. Es war Mord, auch wenn es ein Irrtum war. Wer anders als er, Henry, würde die Enttäuschung in ihrem Gesicht sehen?
    Es klopfte gegen die Wagenscheibe. Ein junger Arzt stand am Wagen. Henry stieg wieder aus.
    Â»Sie sind verletzt?«
    Henry schaute an sich herunter. Jetzt erst bemerkte er die fleckige Hose und sein zerrissenes Lieblingshemd, die Arme fleckig von geronnenem Blut.
    Â»Das Blut ist von dem anderen. Lebt er noch?«
    Der Arzt nickte. »Es ist ordentlich was gebrochen, auch sein Schädel, er hat viel Blut verloren, aber er kommt durch. Sie haben ihn

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