Die Wahrheit und andere Lügen
den Rücken, er öffnete keuchend die Augen, erkannte sie und lächelte. Sie holte Wasser, flöÃte es ihm vorsichtig ein, half ihm, sich aufzurichten, und stützte den Taumelnden auf seinem Weg ins Bad. Moreany hatte sichtlich Schmerzen. Er war so schwach, dass sie ihn auf der Toilette festhalten musste. Vier Tassen Kaffee später ging es ihm ein wenig besser. Er sah in ihr besorgtes Gesicht.
»Ich weià es schon. Henry hat mich in der Nacht angerufen. Der Roman ist auch verloren.«
»Verloren?« Honor hielt sich entsetzt die Hände vor den Mund.
»Betty hatte das Manuskript bei sich im Wagen.«
»Nein! Gibt es denn keine Kopie? Er muss doch eine Kopie gemacht haben.«
Moreany schüttelte den Kopf. »Er schreibt immer auf Maschine. Ich habe das Manuskript gesehen. Das ist das Ende, Honor. Und wenn du jetzt weinen willst, bitte sei so lieb und hol mir vorher meine englischen Butterkekse.«
Honor fand die beschriebene Blechdose mit den Keksen in einer Speisekammer voller verdorbener Köstlichkeiten. Alles war mit gewebten Tüchern aus feinstem Insektensekret bedeckt. Spanischer Schinken von blauem Schimmelrasen bewachsen, mumifizierte Würste, vertrocknete Früchte, gefährlich bauchige Dosen, die Regalbretter durch unzählige Bohrtunnel miteinander verbunden. Kein Zweifel, hier fehlte eine Frau im Haus. Honor wagte es kaum, die Keksdose zu öffnen, doch zu ihrer Erleichterung waren die Kekse darin perfekt erhalten.
»Hast du die Geier auf dem Dach gesehen, Honor? Ich hoffe, sie sind Vegetarier. Ich weià nicht, wie lange ich es noch mache.«
Moreany hatte zum ersten Mal »Du« zu ihr gesagt. Honor nahm seine Hand und drückte sie. Er kaute mit Genuss einen Keks. »So, Eisendrähtchen«, sagte er dann und schloss die Augen, »und nun zu den guten Nachrichten. Gibt es welche?«
* * *
Die kleine Dreizimmerwohnung war aufgeräumt. In allen Räumen duftete es schwach nach Maiglöckchen und frischer Wäsche, die auf einem Ständer im Wohnzimmer hing. Jenssen lief langsam durch die Zimmer, betrachtete die Möbel, die kleine Sammlung aus venezianischem Glas, Kleidung und Schuhe. Ein groÃes Schwarz-WeiÃ-Porträt von Betty hing an der Wand, es zeigte sie halb seitlich mit viel Licht auf dem blonden Haar und erinnerte Jenssen an den Hollywoodstar Lana Turner aus den vierziger Jahren. Er machte davon ein Foto mit seinem Telefon. In der Küche stand noch das Frühstücksgeschirr auf dem Tisch, ein angebissener Apfel neben einer halb gelesenen Zeitung, und am Kühlschrank klebte ein magnetischer Kalender mit einem roten Kreis um ein Datum. »Frauenärztin« stand mit Filzstift eingetragen. Jenssen schaute auf seine Armbanduhr, es war das Datum von heute.
Auf dem kleinen Schreibtisch in Bettys Schlafzimmer fand Jenssen private und geschäftliche Fotos. Auf einigen Bildern erkannte er Henry Hayden. Diese Bilder waren offenbar bei Lesungen und auf Buchmessen entstanden. Einen Computer fand Jenssen nicht, nur ein WLAN-Router zeugte davon, dass sie Internet-Zugang hatte. Auf einem Stapel Manuskripte lag die nicht ausgefüllte Schadensmeldung der KFZ-Versicherung. Das X im Kästchen für Diebstahl und der Wagentyp waren bereits von der Versicherung eingetragen. Jenssen wusste bereits, dass Betty Hansen ihren Wagen als gestohlen gemeldet hatte, ohne die Autoschlüssel präsentieren zu können. Auch dass sie einen Mietwagen mit Henry Haydens Kreditkarte bezahlte, wusste er. Die Frage war, warum.
Jenssen ging gern durch die Wohnungen von Toten. Es war etwas makaber Feierliches daran, langsam und respektvoll durch die Räume zu gehen wie ein Atheist in der Kirche, der Gottes Abwesenheit kontempliert. Es konnte durchaus etwas Tragisches an einem Paar Schuhe sein, die neben einem Sofa lagen, mit dem Vorsatz abgestreift, sie bei nächster Gelegenheit wegzuräumen, ein aufgeschlagenes Buch im Bett war eine stehen gebliebene Uhr, jede Kalendernotiz eine Botschaft aus dem Jenseits.
Ergriffen von der Melancholie der zurückgelassenen Dinge, dachte Jenssen über die fremde Frau nach, die hier gelebt hatte. Schon bevor er ihr Porträt an der Wand entdeckte, vermutete Jenssen, dass sie Henry Haydens Geliebte gewesen war. Sie passte zu ihm. Sie war jung und schön, offensichtlich gebildet und erfolgreich, sie arbeitete eng mit ihm zusammen â die meisten Ehen und heimlichsten Affären werden in
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