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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Weitsicht, sich zu Beginn seiner Laufbahn gegen den Dienst bei der Spurensicherung entschieden zu haben. Nicht, weil diese Arbeit uninteressant gewesen wäre oder sinnlos, nein, das Strapazierende an ihr war, dass die Spuren meist mikroskopisch klein sind, ein gefundenes Haar kommt einem Baumstamm gleich. Dieses Herumstochern im Nanobereich entbehrte für Jenssen jeder haptischen Sinnlichkeit.
    Jenssen lief die Distanz zum Meer ab, zählte zweiundvierzig Schritte. Alte Schienen führten über eine leicht abschüssige Betontrasse ins Wasser, wo noch die Gerippe alter Zugschlitten rosteten, auf denen die Ladung von den Kuttern an Land gehievt wurde. In den guten Jahren, als es noch Fisch gab.
    Die Spürhunde wurden nach ergebnisloser Suche wieder in den Transporter geladen, ein paar Beamte schnorchelten noch im befestigten Uferbereich, im Laufe des Nachmittags sollten die angeforderten Marinetaucher kommen. Sie wür den auch nichts finden, davon war Jenssen überzeugt. Er setzte sich auf einen LKW-Reifen, der bereits kriminaltechnisch behandelt war, und vollführte unbemerkt Streckübungen, um die Kontrolle über seine Oberarme zurückzugewinnen. Er war sicher, dass man weder eine Leiche noch eine Spur der Täter oder irgendetwas der Aufklärung Dienliches finden würde. Abermals zog er das zerknitterte Faxpapier aus der Tasche und las das Transskript des Notrufprotokolls.
    Um 21:16 Uhr hatte Henry Hayden die Notrufnummer der Polizei auf seinem Mobiltelefon gewählt. Zuerst erkundigte er sich, ob der Polizei ein Verkehrsunfall gemeldet worden sei. Dann schilderte Hayden, dass Bettina Hansen, Lektorin seines Verlages, mit dem Originalmanuskript seines neuesten Romans am verabredeten Treffpunkt nicht erschienen sei. Sie habe ihn von unterwegs zweimal angerufen. Einmal, um ihn nach dem Weg zu fragen, ein zweites Mal, um ihm ihre Verspätung anzukündigen. Seit Stunden sei sie telefonisch nicht mehr erreichbar. Der Beamte des Notrufdienstes erklärte Henry, dass keine Unfallmeldung vorliege und dass es für eine Vermisstensuche noch zu früh sei. Formal völlig korrekt. Jenssen war sicher, dass die Überprüfung der Telefonate hinsichtlich Dauer und Ortung Haydens Angaben bestätigen würde.
    * * *
    Es war diese Häufung von Ähnlichkeiten, die er so bemerkenswert fand. Zwei Frauen in weniger als einem Monat verschwunden, beide eng mit Hayden bekannt. Mit der einen war er verheiratet, mit der anderen arbeitete er. Aber hätte nicht jeder an seiner Stelle das Gleiche getan?, fragte sich Jenssen. Eine weitere Auffälligkeit war, dass die zwei Frauen »im Ganzen« verschwunden waren, keine Spur, kein Haar, kein Partikel mehr auffindbar. Martha Hayden war eine geübte Schwimmerin gewesen. Ihr Tod war plausibel, kein Mensch kann eine starke Strömung überwinden. Wie aber konnte eine gesunde, vernunftbegabte Frau wie diese Lektorin sich dermaßen verfahren? Fünf Kilometer kratergespickte Sandpiste waren es von der Küstenstraße bis hierher. Kein Schild, kein Wegweiser und kein Eintrag im Navigationssystem wiesen auf ein Restaurant in dieser Einöde hin. Und wo war ihre Leiche geblieben?
    Jenssen stand auf und watschelte an den Kollegen vorbei zum Hangar. Er machte fünf Schritte ins Dunkel, drehte sich um und rief laut:
    Â»HILFE!«
    Synchron hielten alle inne, blickten sich suchend um – aber niemand konnte ihn sehen. Nur fünf Schritte entfernt und doch unsichtbar, stellte Jenssen fest. Wahrscheinlich war der Mörder genau von hier gekommen.
    * * *
    Nach dem fünften vergeblichen Anruf bestellte Honor Eisendraht ein Taxi und ließ sich vom Verlag direkt zu Moreanys Villa fahren. Sie betrat den alten Park durch das Gartentor und hielt den Klingelknopf an der Haustür so lange gedrückt, bis sie einen Krampf im Zeigefinger bekam. Dann ging sie um das Haus herum und betrat durch die offen stehende Verandatür die Bibliothek. In höchster Sorge durchsuchte sie das große Haus. Zahllose Zimmer waren leer oder mit Büchern und Kisten vollgestellt. Sie rief seinen Namen, sie lauschte.
    Schließlich fand sie Moreany im Schlafzimmer in der ersten Etage. Er lag seitlich in seinem riesigen Boxspring-Bett, das Gesicht schweißbedeckt, zwischen einzelnen Atemzügen vergingen Sekunden. Sie sah eine aufgebrochene Schachtel mit Morphanton zwischen den Laken, drei Tabletten à zehn Milligramm fehlten. Sie drehte Moreany auf

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