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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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Stück weiter. Ich komm dir entgegen.«
    Sein Lachen beruhigte sie. Betty stieg nach kurzen Zögern wieder in den Wagen und fuhr langsam an der hässlichen Mauer entlang. Das Telefon hielt sie dabei am Ohr. Sie konnte seinen ruhigen Atem hören. Zu ihrer Linken öffnete sich nach fünfzig Metern ein freies Gelände, und das Meer wurde sichtbar.
    Â»So, ich bin jetzt direkt am Wasser. Hier ist ein Hangar, überall liegen Tonnen und alte Schienen. Kein Mensch, kein Auto. Wo bist du?«
    Â»Auf dem Weg zu dir. Halt neben dem Hangar. Ich bin gleich da.«
    Betty hielt den Wagen neben dem Hangar an, dessen riesenhaftes Tor offen stand wie ein Alligatormaul. Der Staub auf den Scheiben reflektierte so stark, dass sie nicht erkennen konnte, was im Dunkel des Hangars verborgen war.
    Â»Ist das Restaurant etwa da drin?«
    Â»Ich seh dich, Betty. Steig aus, dreh dich um, siehst du mich?«
    Betty öffnete langsam die Wagentür und stieg aus. Ein kalter Wind drang aus dem Dunkel des Hangars. Sie hielt das Telefon in der Faust umklammert und blickte sich suchend nach Henry um.
    Â»Wo bist du, Henry?«

XVIII
    J enssen mochte Statistiken. Natürlich kannte er wie die meisten seiner Kollegen die jährliche Kriminalstatistik. Zahlen erzählen.Besonders, wenn man sie einander gegen überstellt, beispielsweise, dass sich in Deutschland 2009 genau 38 117 Frauen das Gesicht lasern ließen, ebenso 42 623 deutsche Männer im selben Zeitraum. Was sagt uns das?, fragte Jenssen gern, wenn er solche Zahlen in der Kantine des Polizeipräsidiums vortrug.
    In der Kategorie Mord und Totschlag waren Tötungsdelikte im Vergleich zum Vorjahr leicht um 2,2 Prozent zurückgegangen. Die Aufklärungsquote betrug 95,9 Prozent, was ein gutes Licht auf die Arbeit der Ermittlungsbehörden wirft und ein schlechtes auf die Auffassungsgabe des normalen Gewalttäters. Die nahezu hundertprozentige Wahrscheinlichkeit, des Mordes überführt und schwer bestraft zu werden, halten die meisten Täter demnach für akzeptabel. Vielleicht, weil es eben nur fast hundert Prozent sind und weil die Statistik sie ja nicht persönlich betrifft, sondern die anderen. Und nicht zuletzt, weil die Kriminalstatistik Auskunft über die »erkannten« Morde gibt. Die unerkannten, um nicht zu sagen, gelungenen Morde verbleiben dagegen im Paradies der Dunkelziffer. So ist zu erwarten, dass in kommenden Jahren prozentual ähnlich viele Morde begangen und gesühnt werden. Diese Gewissheit bleibt als böse Ahnung.
    Martha Haydens Tod durch Ertrinken war für Jenssen ein klassischer Unfalltod gewesen, da weder ein Motiv noch Indiz auf etwas anderes hindeuteten. Das Fahrrad am Strand hatte ihn überzeugt. Es hatte alle überzeugt. Und doch war »Badetod« nur eine Hypothese, einzig basierend auf dem Fund des Fahrrades, ausgerechnet durch ihren Ehemann. Rein hypothetisch ließ das Fahrrad am Strand auch den Schluss zu, dass die Besitzerin von Außerirdischen entführt wurde und sich jetzt an Bord eines Raumschiffes mit minderjährigen Exomorphen vergnügte. Warum eigentlich nicht?
    Das Verschwinden der 34-jährigen Lektorin Betty Hansen aus dem Verlagshaus Moreany war indes kein Unfall und mit Sicherheit auch kein Selbstmord. Ein Hubschrauber der Küstenwache sichtete das brennende Autowrack gegen 22:00 Uhr auf einem nächtlichen Routineflug. Nach Eintreffen der Feuerwehr gegen 22:45 Uhr konnten nur noch glimmende Kunststoffteile des Wagens mit Schaum erstickt werden. Der Schaum vernichtete dabei wertvolle Spuren in der unmittelbaren Umgebung des Wracks. Reste eines menschlichen Körpers fanden die Brandermittler nicht.
    Eine Stunde nach Beginn der Frühschicht traf Jenssen auf dem Gelände der stillgelegten Fischfabrik ein. Sie war seit einem Jahrzehnt nicht mehr genutzt und wirkte auf ihn wie ein apokalyptischer Badeort an der Costa Brava. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte, weil er am Abend zuvor im Fitness-Studio versucht hatte, drei Wochen versäumtes Training nachzuholen. Trotz der 1500 Milligramm Ibuprofen konnte er nicht normal laufen, sondern nur seitlich watscheln und dabei mit den Armen schlackern wie ein Orang-Utan.
    Der pulverfeine weiße Staub war im Löschschaum um den Wagen zu grauer Pampe verklumpt. Die Kollegen von der Spurensicherung krochen darin herum, um etwas Blut, Haare, Reste von Körperfett oder Knochenasche zu finden. Jenssen pries seine

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