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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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drang in den Wagen, formte sich zu Wolken, legte kleine Kristalle auf ihrer Haut ab, drang in Haare und Lungen, vermischte sich mit der Feuchtigkeit ihrer Schleimhäute.
    Â»Was siehst du?«
    Â»Also rechts sehe ich Felder und Strommasten, und links sind mehr so Büsche und sonst rein gar nichts. Es ist irre staubig hier, wenn ich ankomme, werde ich aussehen wie Ben Hur nach dem Wagenrennen.«
    Henry sah vor dem inneren Auge, dass sie die richtige Straße genommen hatte. »Die Strommasten führen dich genau hierher.«
    Betty schaute auf das Navigationsgerät. »Das Navi zeigt nur eine gestrichelte Straße an. Noch vier Komma neun Kilometer. Kann das sein?«
    Â»Du bist richtig. Immer geradeaus bis zum Wasser. Es ist ein alter Hafen. So heißt auch das Restaurant: Alter Hafen. Du bist schon ganz nah. Hast du mein Manuskript dabei?«
    Â»Natürlich.«
    Â»Fein. Soll ich dir schon mal einen Sundowner bestellen?«
    Â»Kein Alkohol für mich. Okay, bis gleich.«
    Betty legte das Telefon neben sich in ihre offene Handtasche mit ihrem Notebook und Henrys Manuskript. Sie hatte ein gutes Gefühl gehabt, als sie das Verlagsgebäude verließ, um zum verabredeten Abendessen mit Henry zu fahren. Der erste Schritt für eine Versöhnung mit Honor Eisendraht war getan. Eisendrahts Verrat, so heimtückisch er auch war, hatte reinigende Wirkung gehabt, einen echten Gefallen hatte sie ihr damit getan, auch wenn das bestimmt nicht ihre Absicht gewesen war. Mit den Ultraschallbildern endete die alberne Heimlichtuerei, keine Affäre ist es wert, ein Kind zu verleugnen.
    Die Schlaglöcher in der Piste wurden immer tiefer, Betty drosselte das Tempo. Rostzerfressene Metallcontainer lagen in der Landschaft verstreut, ab und an sah Betty Fetzen von Lastwagenreifen. Wie Puder stoben Staubfontänen empor, Betty sah breite Reifenspuren vor sich und versuchte, nicht in Spurrillen zu fahren, die vom Regen ausgewaschen und von der Sonne zu steinharten Furchen gebacken waren.
    Je langsamer sie fuhr, desto endloser und absurder schien ihr der Weg. Aber Henry hatte immer schon ein gutes Gespür für abgeschiedene und einmalig schöne Orte. Betty erinnerte sich an das Es Verger auf dem Puig de Alaró auf Mallorca. Henry war stur bergauf gefahren, der Motor heulte, es krachte und rumpelte. »Irgendwann kommen wir an«, waren seine Worte gewesen, und sie hatte ihm vertraut. Nach einer schier endlosen, steil aufsteigenden Fahrt durch schmale Serpentinen erreichten sie schließlich die Mutter aller Bergrestaurants und aßen das köstlichste Lamm ihres Lebens. In dieser Nacht wurde das Kind gezeugt, Betty war ganz sicher.
    In der Ferne tauchte ein Schild auf. Es stand halb eingesunken auf rostigen Stahlträgern, war von Staub und Sonne fast unleserlich, Betty konnte Teile eines Fischerbootes erkennen und in verwaschenen Buchstaben »… Hafen«. Das musste es sein. Ihr Navigationssystem zeigte eine Distanz zum Ziel unter einem Kilometer an. In groben Umrissen gab das Display ein rechtwinkliges Gelände am Meer wieder. »In siebenhundert Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht. Das Ziel ist in der Nähe.« Ein Metallzaun umschloss das Gelände. Die hässliche Betonfassade eines Industriegebäudes wurde sichtbar, und Möwen saßen auf skelettierten Kränen.
    Betty passierte im Schritttempo das offene Zauntor und folgte den mit Unkraut bewucherten Betonplatten. Haufen von heimlich entsorgtem Müll türmten sich, gelbe und blaue Plastikfässer schaukelten im Wind, über allem lag ein fauliger Geruch. Betty ließ den Wagen bis zu einer halbhohen Mauer rollen, wo in verblichener Farbe Durchfahrt verboten stand. Sie hielt den Wagen an, stieg aus, blickte sich um.
    Â»Folgen Sie den Richtungspfeilen«, zirpte das Navigationssystem.
    Die Terrasse war in rotes Abendlicht getaucht, weitere Gäste hatten Platz genommen, gerade wurde eine Frau an Henrys Tisch vorbeigeführt, er betrachtete ihre sonnengebräunten Fersen in hohen, hinten offenen Schuhen. Henrys Telefon summte.
    Â»Betty, wo bist du?«
    Â»Ich bin auf einer Müllhalde gelandet, vor mir hängt ein Schild ›Durchfahrt verboten‹.Soll das ein Scherz sein? Hier gibt es kein Restaurant.«
    Â»Dann stehst du jetzt vor einer Mauer, richtig?«
    Â»Ja, und ich fahr nicht mehr weiter, es ist wirklich spooky hier.«
    Henry lachte. »Ignorier einfach das Schild, fahr ein

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