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Die Wahrheit und andere Lügen

Die Wahrheit und andere Lügen

Titel: Die Wahrheit und andere Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Arango
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schon das Zuhören müsse als Überstunde gelten. Die größten Fahndungserfolge wurden durch den Abgleich der Bewegungsprofile von Opfer und Täter erzielt. Die Methode funktionierte gut. Man erstellte möglichst vollständige Biographien der Opfer und suchte dann nach »Schnittmengen« mit den Profilen potenzieller Täter.
    Wie die Experten von der Auswertung feststellten, hatte Betty Hansen in den vergangenen sechs Monaten tatsächlich regelmäßig mit einem Unbekannten telefoniert. Dessen Identität blieb dennoch rätselhaft. Die SIM-Karte des Prepaid-Telefons war unter einem Phantasienamen mit falscher Adresse angemeldet worden. Auch Bettys Telefon blieb verschwunden, ebenso ihr Notebook mit gespeicherten E-Mails. Weder aus dem ledergebundenen Terminkalender noch aus privater wie geschäftlicher Korrespondenz ging ein Name hervor.
    In der gynäkologischen Praxis befragte Jenssen die Frauenärztin, welche den Ultraschall durchgeführt hatte. Auch ihr gegenüber hatte Betty Hansen den Namen des Vaters nicht erwähnt. Ohne eine Gewebeentnahme aus der Fruchtblase der Mutter ließ sich die DNA des Vaters nicht ermitteln. Familienangehörige wurden befragt, Freunde, sämtliche Kollegen im Verlag und alle Nachbarn im Haus, niemand konnte relevante Angaben machen. Die Suche nach Fingerabdrücken in ihrer Wohnung erbrachte außer Bettys nur Jenssens Abdrücke und die einer Nachbarin. Einzig brauchbare Spur war das diffuse Bewegungsprofil des Anrufers. Folglich wurde diese Spur mit größtem Aufwand verfolgt.
    Bekanntlich speichern Telefongesellschaften ihre Vorratsdaten über wer wo mit wem wie lange telefoniert nur sechs Monate lang. Viel zu kurz für gründliche Polizeiarbeit, wie Awner Blum fand. Die anlasslose Speicherung aller Daten zum Zweck der Strafverfolgung wäre viel wirkungsvoller, wenn sie zeitlich unbegrenzt wäre, denn jeder Telefonbesitzer ist ein potenzieller Straftäter und sollte entsprechend präventiv behandelt werden. Alles auf ewig weiß nur die National Security Agency, doch die Amerikaner sind mit der Herausgabe ihres wertvollen Wissens bekanntlich sehr knausrig.
    Das Ergebnis der Telefonauswertung fand Jenssen nicht besonders hilfreich. Er klebte das Bewegungsprofil des mysteriösen Anrufers als transparente Folie auf die große Landkarte an der Wand seines Büros und bestellte eine Jumbo-Thunfischpizza mit extra Kapern. Ort, Zeit und Dauer der Telefonate waren als Punkte darauf verzeichnet. Diese Punkte verstreuten sich zu einer Wolke. Durch Linien verbunden, ergab sich dabei ein abstraktes Muster, ästhetisch anspruchsvoll, aber erkennungsdienstlich ein Desaster. Jeder Anruf kam von einem unterschiedlichen Ort. Manche Telefonate wurden in der Stadt geführt, übrigens nicht weit von Betty Hansens Wohnung. Die meisten aber wurden in dünn besiedelten Gebieten geführt, etwa aus abgelegenen Wäldern und Naturreservaten in einem Umkreis von dreihundert Kilometern. Die Position des Telefons war daher nur sehr ungenau bestimmbar. Überdies schaltete der Anrufer das Telefon erst unmittelbar vor dem Gespräch ein, danach sofort wieder aus. Es gab also keine Bewegung über Straßen, keine Linien , sondern nur Punkte.
    Eine Sondereinheit forschte bereits intensiv nach einem Naturburschen, einem Förster oder Jäger. Mit Hundertschaften wurden die Gebiete durchkämmt, wo der Anrufer sein Telefon eingeschaltet hatte. Auch Wärmekameras und Satellitenoptiken wurden eingesetzt, um ein geheimes Versteck zu finden, Hundestaffeln suchten nach Erdhöhlen. Man stieß nur auf Wildererverstecke und ein verlassenes Pfadfindercamp. Viele arglose Wanderer wurden von der Polizei festgehalten, um deren Telefone zu überprüfen, sonst ergab die Suche nichts.
    Da die Suche nach dem Unbekannten nicht weiterführte, ging man an die cold cases , die ungeklärten Mordfälle, nach ähnlichem Schema. Neue Hypothesen und mehr Fachleute kamen hinzu, immer größer wurde die Mordkommission, immer zentrumsloser die Suche. Jenssen, der die Landkarte in seinem Büro inzwischen mit Dartpfeilen bewarf, glaubte nicht an die Theorie vom Waldmenschen. Er sah in dem partisanenhaften Auftauchen und Verschwinden des unbekannten Anrufers eine sehr viel entspanntere Strategie. Für Jenssen war klar, dass der mysteriöse Mann kein anderer sein konnte als Henry Hayden.
    Bei der täglichen großen Runde im

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