Die Wahrheit und andere Lügen
der Arbeitswelt geschlossen. Auch das war nur eine blasse Hypothese, eine Ahnung, doch Jenssen glaubte, dass der Tod beider Frauen auf mysteriöse Weise zusammenhing und durch ein singuläres Motiv zu erklären war.
Henry Hayden hatte Betty Hansen nicht umgebracht. Das stand jetzt schon fest. Er hatte das unbestreitbar beste Alibi der Welt. Er wartete vor aller Augen in einem öffentlichen Lokal auf sie, er telefonierte sogar mit ihr. Das altmodische Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Jenssen zuckte zusammen. Nach einigem Zögern hob er ab. Es war die Sprechstundenhilfe der gynäkologischen Praxis Hallonquist, die freundlicherweise an den Termin der frauenärztlichen Vorsorge erinnern wollte.
»Wann?«
»Heute, fünfzehn Uhr.«
* * *
Henry sah den Polizeiwagen auf dem Parkplatz stehen. Die Funkantenne war dezent am Heck befestigt, aber eben nicht dezent genug. Er grüÃte den alten Pförtner und erkundigte sich nach dessen rheumageplagter Frau. Es ging ihr wie immer miserabel. Dann nahm er die Stufen in die dritte Etage, um seinen beschleunigten Puls plausibel zu machen.
Honor Eisendraht kam ihm auf dem Flur entgegen, als habe sie hier auf ihn gewartet. Ihre Augen waren gerötet, ihre Frisur ein wenig derangiert. Sie trug ein anthrazitgraues Kostüm, passend zur Situation. »Die Polizei ist da«, raunte sie Henry zu, »es sind drei, und sie verhören alle . Sie haben Bettys Büro versiegelt. Moreany geht es sehr schlecht. Wie konnte das alles passieren?«
»Waren Sie schon dran, Honor?«
»Ich bin die Nächste. Wenn die mit Moreany fertig sind. Henry, ist der Roman wirklich verloren?«
Er nickte ernst. »Ich kann ihn aus meinen Notizen rekonstruieren, aber es wird lange dauern. Wenn Betty tot ist, dann ist er verloren.«
»Denken Sie denn, sie lebt vielleicht noch?«
Henry sah ihre Lippen zittern. Gerührt nahm er die Eisendraht in die Arme und strich ihr sanft über den Rücken. »Solange Bettys Leiche nicht gefunden wird, glaube ich nicht, dass sie tot ist.« Sie lösten sie sich aus der Umarmung. Honor wischte sich die Tränen ab.
»Henry, Sie glauben doch nicht, dass ich es war?«
»Das Sie was waren?«
»Ich habe diese Ultraschallbilder nicht geschickt.«
»Sie? Um Himmels willen, nein, das glaube ich nicht im Traum! Wissen Sie, was ich denke? Ich denke, dass es der Vater ihres Kindes war.«
Als Henry den Raum betrat, war Moreanys Befragung bereits abgeschlossen. Die drei Kriminalbeamten standen wie die letzten Figuren einer Schachpartie im Raum. Grau im Gesicht und unrasiert, saà Moreany im Eames Chair. Er war zu schwach, um aufzustehen, und winkte nur.
»Henry, das sind die Herrschaften von der Kriminalpolizei. Entschuldigen Sie, ich habe Ihre Namen vergessen.«
Henry erkannte das Opossum wieder, das neben Jenssen stand. Sie hatte sich in der Zwischenzeit die Augenbrauen gezupft, der durchgehende Balken über ihrer Nasenwurzel war verschwunden. Den schlanken Dunkelhaarigen mit fein geschnittenem Gesicht kannte er nicht. Er stellte sich vor. »Awner Blum«, sagte er trocken. »Ich leite die Ermittlungen.« Henry konnte nicht einschätzen, ob das eine gute oder eine schlechte Nachricht war. Er schüttelte allen die Hand und spürte wieder Jenssens festen Händedruck.
»Gibt es schon irgendwelche â wie soll ich sagen â Erkenntnisse?«, fragte Henry und blickte in die Runde.
»Wir werten noch aus«, entgegnete Jenssen betont sachlich. »Der oder die Täter haben das Auto angezündet, um Spuren zu vernichten. Vor allem interessiert uns, ob es eine Zufallstat war oder eine geplante.«
»Wer soll das geplant haben?« Henry schaute fragend in die Gesichter der Anwesenden. »Betty hat sich verfahren. Sie wusste selbst nicht, wo sie gelandet ist, kein Mensch wusste das.«
»Das genau ist die Frage, Herr Hayden«, drängte sich Blum ins Gespräch, Jenssen schwieg.
»Sie meinen, ob jemand mit ihr im Wagen war?«
»Zum Beispiel. Es wäre denkbar, oder?«
»Wer sollte das gewesen sein?«
Die Tür öffnete sich leise, hinter Henry trat Honor Eisendraht in den Raum. Henry fiel auf, dass das Opossum schon wieder schnüffelte.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Hayden, dann würden wir die Befragung gerne mit Ihnen fortsetzen.« Jenssen blickte zu Moreany. »Haben Sie noch einen freien Raum für
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