Die Wahrheit
Befähigung zum Richteramt, wie sie korrekt hießen - arbeiteten ein Jahr lang in der Verwaltung des Obersten Gerichtshofs, bevor sie in angesehenere Positionen in Privatkanzleien, im öffentlichen Dienst oder in den Lehrbetrieb wechselten. Michael trat nun, was noch nie vorgekommen war, sein drittes Jahr als Oberassessor von Richter Thomas Murphy an, dem legendären Liberalen an diesem Gericht.
Michael besaß einen phänomenalen Verstand. Sein Hirn funktionierte wie eine Geldzählmaschine: Daten strömten in seinen Kopf, wurden blitzschnell sortiert und an die richtige Stelle weitergeleitet. Er konnte mit einem Dutzend komplizierter, ineinander verzahnter Szenarien jonglieren, sie gegeneinander abwägen und ermitteln, welche Auswirkungen ein jedes auf die anderen hatte. Vor Gericht befaßte er sich gern mit schwierigen Fällen von nationaler Bedeutung, auch wenn er sich dabei mit Kollegen herumschlagen mußte, deren Verstand so messerscharf war wie der seine. Und Michael hatte festgestellt, daß selbst im Rahmen rigoroser intellektueller Dispute Zeit und Gelegenheit für etwas Tieferes blieb als das, was die trockenen, scharf umrissenen Worte eines Gesetzestextes verkündeten. Im Grunde wollte Michael den Obersten Gerichtshof gar nicht verlassen. Die Welt draußen hatte keinen Reiz für ihn.
Sara machte einen besorgten Eindruck. Während der letzten Sitzungsperiode hatte Richter Murphy entschieden, den Fall Chance zu verhandeln. Die mündliche Verhandlung wurde anberaumt und die Eingaben für den Richter vorbereitet. Sara war Mitte Zwanzig, eins fünfundsechzig groß und schlank, doch mit wohlproportionierten weiblichen Rundungen. Ihr Gesicht war fein geschnitten, die Augen groß und blau. Ihr Haar war dicht und braun - im Sommer nahm es immer eine leicht blonde Färbung an - und schien stets frisch und angenehm zu duften. Sie war Assessorin von Richterin Elizabeth Knight. »Ich verstehe das einfach nicht. Ich dachte, Murphy stünde bei dieser Sache hinter uns. Ist doch genau sein Fall. Der kleine Mann gegen die allgewaltige Bürokratie.«
»Er glaubt aber auch fest daran, daß Präzedenzfälle berücksichtigt werden müssen.«
»Auch wenn es falsch ist?«
»Du rennst offene Türen ein, Sara, aber ich habe mir gedacht, ich sollte es dir sagen. Ohne ihn wird Richterin Knight keine fünf Stimmen bekommen, das weißt du. Selbst mit ihm schafft sie es vielleicht nicht.«
»Tja, was will er dann?«
Darauf lief es die meiste Zeit hinaus. Das berühmte Netzwerk der Assessoren. Wie die schamlosesten politischen Hausierer schacherten sie und debattierten und versuchten, Stimmen für >ihre< Richter zu ergattern. Es stand unter der Würde der Richter, offen um Stimmen zu feilschen, oder um eine bestimmte Formulierung in einer Urteilsbegründung, oder um eine Auslegung, Streichung oder Hinzufügung. Das galt aber nicht für die Verwaltungsangestellten des Gerichts, von denen die meisten diesen Kuhhandel sogar mit beträchtlichem Stolz betrieben. Es ließ sich mit einer gewaltigen, nie endenden Klatschkolumne vergleichen, bei der allerdings nationale Interessen auf dem Spiel standen. Zumindest wenn die Sache in den Händen von Fünfundzwanzigjährigen lag, die gerade ihren ersten richtigen Job angetreten hatten.
»Murphy lehnt den Standpunkt von Richterin Knight ja nicht unbedingt ab. Aber wenn sie bei einer Beratung fünf Stimmen bekommen will, muß die Begründung sehr genau getroffen und eingegrenzt werden. Er läßt sich nicht das Fell über die Ohren ziehen. Er hat im Zweiten Weltkrieg gedient und hat eine hohe Meinung vom Militär. Das muß beim Entwurf der Urteilsbegründung berücksichtigt werden.«
Sara nickte anerkennend. Die persönliche Vergangenheit der Richter spielte bei ihrer Urteilsfindung eine größere Rolle, als die meisten Außenstehenden glauben mochten. »Danke. Aber zuerst muß Richterin Knight die Gelegenheit bekommen, eine Begründung aufzusetzen.«
»Natürlich bekommt sie die Gelegenheit. Ramsey wird dagegen stimmen, Feres und Stanley aufzuheben, das weißt du. Und Murphy wird bei der Beratung wahrscheinlich dafür stimmen, den Fall Chance zu behandeln. Murphy ist der älteste beigeordnete Richter, also wird er darüber entscheiden, wer die Begründung verfaßt. Wenn Knight ihre fünf Stimmen bekommt, wird Murphy ihr diese Aufgabe zuschustern. Und wenn sie ordentliche Arbeit leistet - keine in die Breite gehenden Formulierungen -, sind wir alle wunschlos glücklich.«
Die Vereinigten
Weitere Kostenlose Bücher