Die Wahrheit
tote Mädchen starren. Ein riesiger schwarzer Gorilla in einem grünen Kampfanzug, der sich über ein kleines, hellhäutiges Opfer beugte - so beschrieb es später ein fassungsloser Zeuge.
Erst am nächsten Tag erfuhr Harms den Namen des kleinen Mädchens: Ruth Ann Mosley, zehn Jahre alt, aus Columbia, South Carolina. Ruth und ihre Familie hatten den Bruder des Mädchens besucht, der auf dem Stützpunkt stationiert war. An diesem Abend hatte Harms Ruth Ann Mosley nur als Leiche gesehen, als totes Fleisch - klein, ja winzig im Vergleich zu der gewaltigen Masse seines eins fünfundneunzig großen, zweihundertsiebzig Pfund schweren Körpers. Das verschwommene Bild des Gewehrkolbens, den ihm einer der Militärpolizisten an den Schädel schmetterte, war der letzte mentale Splitter, den Harms sich von dieser Nacht bewahrte. Der Schlag schleuderte ihn neben dem Mädchen zu Boden. Es lag auf dem Rücken, und in jeder Vertiefung seines leblosen Antlitzes sammelten sich Regentropfen. Rufus Harms lag mit dem Gesicht im Schlamm. Er sah nichts mehr. Erinnerte sich an nichts mehr.
Bis zu diesem Abend. Er sog die regenfeuchte Luft in die Lungen und schaute aus dem halb geöffneten Fenster. Von einem Augenblick auf den anderen war er eine dieser seltenen Kreaturen geworden: ein Unschuldiger hinter Gittern.
Im Lauf der Jahre hatte Harms sich eingeredet, daß das Böse wie ein Krebsgeschwür in seiner Seele lauerte. Er hatte sogar an Selbstmord gedacht, um Buße dafür zu tun, einem anderen Menschen das Leben genommen zu haben, noch dazu einem Kind. Doch er war tief religiös, keiner jener Knastbrüder, die im Bau aus Mangel an anderen Zielen den Weg zu Gott gefunden hatten. Deshalb konnte er nicht die Todsünde des Selbstmords begehen. Überdies wußte er, daß der Mord an dem Mädchen ihn zu einem Leben nach dem Tod verdammt hatte, das tausendmal schlimmer war als jenes, welches er jetzt ertrug. Er war nicht bereit, sich überstürzt dem hinzugeben. Da war er hier, in dieser von Menschen geschaffenen Hölle, einstweilen noch besser aufgehoben.
Und nun erkannte er, daß seine Entscheidung richtig gewesen war. Gott hatte es gewußt, hatte ihn für diesen Augenblick am Leben erhalten. Mit verblüffender Klarheit erinnerte er sich an die Männer, die in jener Nacht zu ihm in die Arrestzelle gekommen waren. Vor seinem inneren Auge sah er wieder deutlich jedes der verzerrten Gesichter, die Streifen auf den Uniformen, die einige von ihnen trugen - seine Kameraden. Ihm fiel wieder ein, daß sie ihn eingekreist hatten wie Wölfe ihre viel größere, stärkere Beute; lediglich ihre bloße Überzahl hatte ihnen Mut verliehen. Er erinnerte sich an den verräterischen Haß ihrer Worte. Was sie an jenem Abend getan hatten, hatte Ruth Ann Mosleys Tod verursacht. Und in einem gewissen Sinne war auch Rufus Harms in jener Nacht gestorben.
Für diese Männer war Harms ein wehrfähiger Soldat, der jedoch niemals für sein Land gekämpft hatte. Und zweifellos glaubten sie, daß er verdient hatte, was man ihm antat. Inzwischen war er ein Mann mittleren Alters, der langsam in einem Käfig dahinsiechte - die Strafe für ein Verbrechen, dessen Ursprung viele Jahre zurücklag. Und er war machtlos, ohne jede Aussicht, daß ihm auch nur ein Anschein von Gerechtigkeit widerfuhr. Und trotz alledem starrte er in das vertraute Dunkel seiner Gruft, und ein einziges, heftiges Verlangen gab ihm Kraft: Nach fünfundzwanzig Jahren schrecklicher und schmerzlicher Schuld, die ihn unaufhörlich gequält hatte, bis er sein ohnehin verpfuschtes Leben beinahe weggeworfen hätte, war es nun an der Zeit, daß sie leiden sollten. Er umklammerte die abgegriffene Bibel, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, und gelobte dies dem Gott, der ihn niemals verlassen hatte.
KAPITEL 1
Die Stufen der Treppe, die hinauf zum United States Supreme Court, dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, führte, waren breit und schienen nicht enden zu wollen. Es kam einem so vor, als müsse man den Olymp ersteigen, um bei Zeus eine Audienz zu erbitten, was in gewisser Hinsicht auch zutraf. In die Fassade über dem Haupteingangwaren die Worte EQUAL JUSTICE UNDER LAW eingemeißelt: >Gleiches Recht vor dem Gesetze. Dieser Leitspruch stammte aus keinem wichtigen Dokument oder Urteil, sondern war das Werk von Cass Gilbert, dem Architekten, der das Gerichtsgebäude entworfen hatte. Es war lediglich eine Frage der Schriftgröße gewesen: Der Satz paßte genau auf die Fläche, die Gilbert
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