Die Wall Street ist auch nur eine Straße
hatten. Die Dinge wurden komplizierter und bestimmte Praktiken gefielen mir nicht. Ich war auch skeptisch, was einige der neuen Mitarbeiter betraf, und wollte einfach keine solchen Risiken eingehen.
In diesem Frühling kam alles zusammen. Bislang war nichts Ungewöhnliches passiert. Wir waren nur ein paar Männer und eine Sekretärin. Aber nun erkannte ich, dass mein guter Ruf befleckt werden könnte – wenn nicht noch viel Schlimmeres passierte. Ich fühlte mich so wie 15 Jahre zuvor als Steuermann in Oxford, als mein Vater mir diesen Brief geschickt hatte. Ich war mit einem ganz ähnlichen ethischen und moralischen Dilemma konfrontiert. In diesem Fall wurde mir schnell klar, dass kein Argument die Dinge verändern würde. Ich versuchte es mit Konfrontation, ich suchte die Auseinandersetzung, aber das hatte alles keinen Sinn. Ich war der Juniorpartner. Also sagte ich mir: Okay, das war’s. Ich werde mich wie geplant zur Ruhe setzen und ein anderes Leben führen.
Mein Abschied von Quantum entsprach gewissermaßen einem familiären Muster. Als ich ein Kind war, erzählte mir meine Großmutter, einer meiner Vorfahren sei Geschäftspartner des amerikanischen Industriellen Cornelius Vanderbilt gewesen, habe sich mit ihm aber wegen ethischer Fragen zerstritten. (Als ich nach Yale kam, wurde ich der Vanderbilt Hall zugewiesen, die 1894 mit von Cornelius Vanderbilt II gespendetem Geld erbaut worden war. Ich bemerkte, dass Mr. Vanderbilt wohl auch ohne meinen Ahnen recht gut zurechtgekommen war.) Mein Vater beendete aus ähnlichen Gründen eine geschäftliche Beziehung mit seinem älteren Bruder. Es sah so aus, als handelte ich in der gleichen Tradition.
Wie schon gesagt: An der Wall Street arbeitete ich die ganze Zeit. Ich liebte diese Arbeit so sehr. An einem Wochenende kurz vor dem Unabhängigkeitstag – es war am 3. Juli gegen 19 Uhr – rief mich mein Freund Burton MacLean an, der in Yale einer meiner Kommilitonen gewesen war. Mackie arbeitete für Brown Brothers Harriman & Co., die älteste Privatbank der USA. Wir waren die besten Freunde gewesen, aber wir hatten im Leben unterschiedliche Wege eingeschlagen. Seine Frau Charlotte und er hatten vier Kinder – im Gegensatz zu mir verfolgte Mackie andere Prioritäten als die Arbeit.
»Warum kommst du über das lange Wochenende nicht mit uns an den Strand?«, fragte er.
Ich antwortete: »Ach nein, ich arbeite. Ich habe ein paar Dinge zu erledigen.«
Er sagte: »Morgen ist der 4. Juli. Wovon redest du überhaupt?«
Ich sagte: »Ich muss diese Sachen erledigen, damit wir kein Geld verlieren.«
Ich weiß, dass er meinetwegen ein schlechtes Gefühl hatte.
Als ich Quantum verließ, kam einer der ersten Anrufe von Mackie.
Er sagte: »Ich höre, dass du dich zurückgezogen hast oder gefeuert worden bist oder so etwas.«
»Ich habe mich zurückgezogen«, sagte ich. »Wenn ich nichts falsch mache, muss ich nie mehr im Leben arbeiten.«
Die Zeit lässt selbst die engsten Freundschaften verblassen. Plötzlich sind zehn Jahre vergangen, dann dreimal zehn Jahre – und Mackie und ich haben den Kontakt zueinander verloren. Aber an diesen Anruf kann ich mich erinnern. Ich konnte ihn vor mir sehen, wie er aus dem Fenster seines Hauses schaute, auf seine vier Kinder und sein Auto, auf alles, was er noch bezahlen musste, und sich fragte, wo und um welchen Preis er die Zeit gefunden hätte, all die Arbeitsstunden aufzubringen, um sich mit 37 Jahren zur Ruhe setzen zu können. Und ich bemerkte, was für ein Glück ich hatte, etwas gefunden zu haben, von dem ich so begeistert war, dass ich es verfolgen und alles andere dabei ausschließen konnte.
5. Der Investment-Biker
Mein erstes Motorrad kaufte ich 1969, kurz nachdem ich an die Wall Street gekommen war, am Ende meiner ersten Ehe. Die 250er BMW war nicht das richtige Gefährt, um damit die Welt zu umrunden, für diesen Zweck wäre sie doch erheblich untermotorisiert gewesen. Ich schrieb auf diesem Motorrad keine Geschichte, aber ich nahm an einem wichtigen Moment der amerikanischen Gegenkultur teil.
Im ganzen Sommer 1969 hatte ich von den »3 Days of Peace and Music« gehört, die in Woodstock stattfinden sollten, aber ich war daran nicht genug interessiert, um mir Eintrittskarten zu besorgen. Erst als ich im Radio Berichte hörte, was sich dort oben in den Catskills abspielte, fand ich es spannend, dabei zu sein. Also verließ ich am Freitag, dem 15. August, prompt mein Büro, setzte mich aufs Motorrad und machte mich auf
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