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Die Wall Street ist auch nur eine Straße

Die Wall Street ist auch nur eine Straße

Titel: Die Wall Street ist auch nur eine Straße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jim Rogers
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der Columbia University entfernt, wo es ein exzellentes Sportzentrum gab, aber abgesehen von den Studenten hatten dort nur ehemalige Absolventen, Mitglieder der Fakultät und Angestellte Zugang; manchmal wurden auch Ausnahmen gemacht, vermutlich für solche Außenstehende, die das nötige Geld spendeten, um ein neues Studentenwohnheim bauen zu können. Also rief ich den Dekan kurz nach unserer Party-Begegnung an.
    »Ich sage Ihnen, was ich tun werde«, erzählte ich ihm. »Ich werde einen Kurs halten, für ein Semester und ohne Honorar. Als Gegenleistung will ich lebenslang Zugang zu ihren Sportanlagen haben.«
    Wenig später rief er mich zurück, und zu meinem Erstaunen war er einverstanden.
    Ich bot als außerordentlicher Professor einen Kurs für Studenten höherer Semester an, obwohl ich nicht wusste, wie man lehrt und seit etwa 16 Jahren keinen Fuß mehr in eine Universität gesetzt hatte. Die rund 15 Studenten in meinem Kurs waren im Durchschnitt etwa 26 Jahre alt. Sie alle hatten schon seit einiger Zeit gearbeitet. Und ich sagte ihnen Folgendes: »Ich werde diesen Kurs so halten, als würden Sie für mich arbeiten. Ich bin der Chef der Research- und der Investmentabteilung eines Fonds, und Sie werden meine Analysten sein. Ich werde Ihnen Unternehmen zum Analysieren vorlegen und Ihnen zeigen, wie man das macht.«
    Ich erzählte ihnen, wie ich bei der Unternehmensanalyse vorging. Ich gab ihnen Spreadsheets. Ich ließ die Chefs einiger großer Unternehmen zu uns kommen und befragte jeden von ihnen so, als sei ich ein Portfoliomanager; ein Analyst, der ihn in seinem Büro besuchte. Ich stellte all die Fragen, die ich stellen würde, wenn ich herausfinden wollte, ob ich in seine Firma investieren sollte. Danach konnten die Studenten Fragen stellen, und dann lautete ihre Aufgabe, eine Seite darüber zu schreiben, eine einzige Seite – längere Abhandlungen akzeptierte ich ebenso wenig wie Seiten, die zu spät abgegeben wurden –, was sie mit der Aktie dieses Unternehmens tun würden – kaufen, verkaufen, leer verkaufen oder nichts davon.
    Nach ein paar Wochen ließ ich jeden Studenten und jede Studentin eine bestimmte Branche analysieren, bei freier Auswahl, solange ich diese Branche akzeptierte. Nehmen wir an, Sie wären ein Student in meiner Klasse gewesen und hätten sich für die Analyse von Fluggesellschaften entschieden. Wir hätten dann vor der ganzen Klasse ein Gespräch geführt, Sie hätten mir Ihre Meinung dargelegt. Als Airline-Analyst hätten Sie mir erläutert, wie man in dieser Branche am besten Geld verdienen kann, ob ich gemäß Ihrer Research-Ergebnisse Delta kaufen, Southwest leer verkaufen oder etwas anderes tun sollte. Ich glaube, jeder kam drei Mal an die Reihe. Und so funktionierte dieser Kurs.
    Ich hatte erklärt, dass der Kurs als sokratischer Dialog ablaufen würde, aber dann musste ich die meisten Teilnehmer erst mal mit Sokrates vertraut machen. Sie alle meinten, ich würde schwierige Aufgaben stellen. Ich stellte auch hohe Anforderungen und benotete sehr streng. Einen Teilnehmer ließ ich schließlich sogar durchfallen. Ich sagte: »Hören Sie, wenn ich jede Woche die Zeit aufwende, für ein paar Stunden hierherzukommen, dann erwarte ich von Ihnen zumindest, dass sie ebenfalls Zeit investieren, um den Kurs für mich interessant zu machen.« Alle Studenten beklagten sich, dass kein anderer Kurs so schwer sei und so viel Arbeit erfordere. Ich erinnerte mich daran, was mit Sokrates passierte – er wurde zur Einnahme von Gift gezwungen. Ich weiß noch, wie ich im Büro des Dekans saß, als am Ende des Semesters die Bewertungen seitens der Studenten kamen. Ich erwartete das Schlimmste, doch als ich sie las, begann ich zu weinen. Ich bekam die wunderbarsten, begeistertsten Bewertungen. Noch nie hatte jemand so nette Dinge über mich gesagt. »Der beste Kurs, an dem ich je teilgenommen habe … Tun Sie alles dafür, dass er zurückkommt …« Ich konnte es kaum fassen. Ich hatte sie knüppelhart arbeiten lassen, und sie hatten es zu schätzen gewusst.
    Es hatte sehr viel Spaß gemacht; mehr als ich je erwartet hatte, und ich sagte mir: Gut, ich werde es wieder tun. Ich hielt meinen Kurs dann vier oder fünf Semester lang ab. Ich tat dies auch 1987, als der Aktienmarkt zusammenbrach. Am Montag, dem 19. Oktober. An meinem Geburtstag. Ich hatte einen Kollaps prognostiziert, aber keinen derart katastrophalen. Der amerikanische Aktienmarkt fiel an einem einzigen Tag um mehr als 20 Prozent. Ich

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