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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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störte mich, daß ich die Wand nicht sehen konnte, und so brach ich einen Arm voll Haselzweige ab und fing an, sie an der Wand in die Erde zu stecken. Diese Tätigkeit schien mir das Nächstliegende zu sein, und sie beschäftigte mich vor allem so sehr, daß ich dabei nicht denken mußte. Ich steckte also ordentlich meine Zweige. Mein Weg stieg jetzt ein wenig an, und ich erreichte wieder die Stelle, von der aus ich das kleine Anwesen sehen konnte.
    Der alte Mann stand noch immer am Brunnen, die gehöhlte Hand zum Gesicht erhoben. Das kleine Stück Tal, das ich von hier aus überblicken konnte, war erfüllt von Sonnenlicht, und die Luft zitterte goldgrün und durchsichtig an den Waldrändern. Auch Luchs konnte jetzt den Mann sehen. Er setzte sich hin, streckte den Hals steil empor, und ein langgezogenes schreckliches Geheul brach aus ihm hervor. Er hatte begriffen, daß das Ding am Brunnen kein lebender Mensch war.
    Sein Geheul zerrte an mir, und etwas wollte mich zwingen mitzuheulen. Es zerrte an mir, als wollte es mich in Stücke reißen. Ich nahm Luchs am Halsband und zog ihn mit mir fort. Er verstummte und folgte mir zitternd. Langsam tastete ich mich weiter an der Wand entlang und steckte ein Holz nachdem andern in den Boden.
    Wenn ich zurücksah, konnte ich die neue Grenze bis zum Bach verfolgen. Es sah aus, als hätten Kinder gespielt, ein heiteres harmloses Frühlingsspiel. Die Obstbäume jenseits der Wand waren schon verblüht und trugen glänzendes hellgrünes Laub. Die Wand stieg jetzt allmählich bergan bis zu einer Gruppe Lärchen inmitten der Bergwiese. Von hier aus konnte ich zwei weitere Keuschen und ein Stück Tal überblicken. Ich ärgerte mich, daß ich Hugos Fernglas vergessen hatte. Jedenfalls konnte ich keinen Menschen sehen, überhaupt keinlebendes Wesen. Aus den Häusern stieg kein Rauch auf. Das Unglück mußte sich, nach meiner Überlegung, gegen Abend ereignet und die Rüttlingers noch im Dorf oder auf dem Heimweg überrascht haben.
    Wenn der Mann am Brunnen tot war, und daran konnte ich nicht mehr zweifeln, mußten alle Menschen im Tal tot sein, und nicht nur die Menschen, alles was lebend gewesen war. Nur das Gras auf den Wiesen lebte, das Gras und die Bäume; das junge Laub spreizte sich glänzend im Licht.
    Ich stand, beide Handflächen an die kühle Wand gepreßt, und starrte hinüber. Und plötzlich wollte ich gar nichts mehr sehen. Ich rief Luchs, der angefangen hatte, unter den Lärchen zu graben, und ging zurück, immer entlang der kleinen Spielzeuggrenze. Nachdem wir den Bach überquert hatten, steckte ich die Straße ab bis zum Felsen und kehrte dann langsam zum Jagdhaus zurück. Nach der grünen, kühlen Dämmerung der Schlucht überfiel uns die Sonne mit Gewalt, als wir auf die Lichtung traten. Luchs schien von dem Unternehmen genug zu haben, lief ins Haus und verkroch sich im Ofenloch. Wie immer, wenn er ratlos war, schlief er nach ein wenig Schnaufen und Winseln sofort ein. Ich beneidete ihn um diese Fähigkeit. Jetzt, wo er schlief, vermißte ich die leichte Unruhe, die er ständig um sich verbreitete. Aber es war immer noch besser, einen schlafenden Hund im Haus zu haben, als ganz allein zu sein.
    Hugo, der selbst nicht trank, hatte einen kleinen Vorrat an Kognak, Gin und Whisky für seine Jagdgäste eingelagert. Ich schenkte mir ein Glas Whisky ein und setzte mich an den großen Eichentisch. Ich hatte nicht die Absicht, mich zu betrinken, ich suchte nur verzweifelt nach einer Medizin, die die dumpfe Benommenheit aus meinem Kopf vertreiben sollte. Es fiel mir auf, daß ich an den Whiskyals an meinen Whisky dachte, ich glaubte also nicht mehr an die Rückkehr des rechtmäßigen Besitzers. Dies versetzte mir einen kleinen Schock. Nach dem dritten Schluck schob ich das Glas angeekelt zurück. Das Getränk schmeckte nach in Lysol eingeweichtem Stroh. Es gab da gar nichts zu klären in meinem Kopf. Ich hatte mich davon überzeugt, daß über Nacht eine unsichtbare Wand niedergegangen oder aufgewachsen war, und es war mir in meiner Lage ganz unmöglich, eine Erklärung dafür zu finden. Ich fühlte weder Kummer noch Verzweiflung, und es hätte keinen Sinn gehabt, diesen Zustand mit Gewalt herbeizuführen. Ich war alt genug, um zu wissen, daß er mir nicht erspart bleiben würde. Die wichtigste Frage schien mir, ob nur das Tal oder ob das ganze Land von dem Unglück betroffen war. Ich beschloß, das erstere anzunehmen, denn dann blieb mir die Hoffnung, daß man mich in wenigen

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