Die Wanderbibel
Bergstiefel hat nämlich nichts mehr gemein mit den klobigen Lederstiefeln, mit denen zu Zeiten des Südtiroler Bergkönigs Luis Trenker die Dolomitengipfel besiegt wurden. Heute sind Bergstiefel kleine, leichte Wunderwerke, die von ihren Konstrukteuren mit allem, was eine bereits NASA-erprobte Technologie zu bieten hat, versehen wurden.
Allen gängigen Vorurteilen zum Trotz stößt man bei deutschen Wanderern im Alpenraum heute kaum noch auf in Knickerbockern gewandete Teutonenbeine. Lediglich in den deutschen Mittelgebirgen – vorzugsweise an den Beinen von Seniorengruppen des Schwarzwaldvereins – findet man die noch vor zwanzig Jahren so beliebten Kniebundhosen. Dort dann allerdings gehäuft.
Der Bergfreund von heute setzt auf eine moderne, wind- und wasserdichte Schöffel-Trekkinghose, die aus atmungs aktiver und strapazierfähiger Kunstfaser (für Insider: G-1000-Gewebe) gefertigt und im Gesäß- und Kniebereich verstärkt ist. Im Schnitt 22 Schub-, Gesäß-, Schenkel- oder andere Hosentaschen sorgen dafür, dass der deutsche Wanderer auf wichtige Accessoires, wie etwa Tempotaschen tuch, Powerriegel oder Labello-Lippenstift, jederzeit Zugriff hat.
Am Gürtel befestigt, meist in schlichten Nappaledertaschen, finden sich die modernen Colts des gut sortierten Bergsteigers: Handy, Digitalkamera, Kompass und Schwei zer Offiziersmesser oder ein Leatherman-Multi funktionstool. Das Königsgerät für die Technikfreaks unter den Wanderern ist ein Outdoor-GPS-Handgerät, können doch selbst Geografieanalphabeten mit diesem mobilen satellitengestützten Navigationssystem ihr Ziel kaum noch verfehlen.
Bei der Wahl seiner Oberbekleidung greift der teutonische Wandersmann meist zu einem Funktionshemd, das sich von einem stinknormalen beziehungsweise normal stinkenden Hemd dadurch unterscheidet, dass es atmungsaktiver, leichter trocknend und dazu auch noch – ganz wichtig für die Einkehr in einen Berggasthof – geruchsabweisend ist. Geht es um Farbe und Muster, greift der deutsche Wanderer stets gezielt zu groß karierten, gedeckten Far ben, die fatal an die Tischdecken düster-verrauchter Sech ziger-Jahre-Kneipen erinnern.
Mit der Zierde seines Hauptes will der deutsche Wandersmann gerne seine Individualität demonstrieren, und so finden wir bei ihm vom Andreas-Hofer-Gedächtnishut über Trachtenhüte mit oder ohne Gamsbart bis hin zur Werbegeschenk-Basecap alle denkbaren Kopfbedeckungen. Ein Italiener würde sich dagegen wohl eher in eine Schlucht stürzen, als einen lindgrünen Deckel mit der Aufschrift »Andy’s Grillstation« oder »Badische Beamtenbank« auf dem Kopf zu tragen.
Bei der Wahl der Sonnenbrille werden die Mentalitätsunterschiede augenfällig. Trägt der Italiener auch in den Bergen eine modisch elegante Brille, auf deren Bügel weithin sichtbar das entsprechende Label prangt, sucht sich der deutsche Wanderer seine Augengläser nach funk tionalen Gesichtspunkten aus. Die Beantwortung der Frage, ob auch auf 1500 Meter Höhe eine Gletscherbrille mit Polycarbonatgläsern (Kategorie 4) für 100-prozentigen UV-Schutz und mit bis zu 97-prozentiger Filterung des sichtbaren Spektrums für extremes Licht sowie einge bautem »Antifog-System« und abnehmbarem Nasen schutz wirklich vonnöten ist, möchte ich dem Leser über lassen.
Seine weitere Ausrüstung führt der deutsche Wanderer in einem hochmodernen Rucksack mit sich. Bei der Wahl seines monströs ausfallenden Tornisters (bis zu 55 Liter Stauvolumen!) legt er großen Wert auf ein thermoformiertes Butterflytragesystem, einen schnell trock nenden Körperkontaktrücken sowie ein integriertes Trink system. Der Rucksack ist so prall gefüllt, dass man vermuten könnte, hier wird neben der obligatorischen Hardshelljacke auch noch ein Fallschirm oder ein Schlauch boot mitgeführt.
Derart ausgerüstet schaut der teutonische Wanderer verächtlich, aber auch mit einer hoffnungsvoll vorauseilenden Schadenfreude, auf die mangelhafte Oberbeklei dung beziehungsweise Ausrüstung der italienischen Konkurrenz herab und hofft inbrünstig, dass der Herrgott die leichtsinnigen Welschen innerhalb der nächsten zwei Stunden für ihre mangelhafte Professionalität mit einem Blizzard oder zumindest einem kräftigen Hagelschauer abstrafen wird.
Natürlich müssen wir an dieser Stelle auch noch auf das Thema »stützende Hilfsmittel«, sprich Wanderstöcke, zu sprechen kommen. Mit den klobigen Wanderstöcken von früher, bei denen es sich um mit einer Metallspitze und
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