Die Wanderbibel
und Wassermassen belästigt und bedroht wurden, weshalb sie den Himmel zu Hilfe riefen. Dieser sandte den vom Gletscher Gepiesackten den heiligen Martinus, einen Mann mit unermesslichen Kräften. Der Alpenherkules stieg weiland ins Gebirg, stemmte sich gegen den Nachbarn des Eigers, den Mettenberg, und drückte seinen Spazierstock gegen den Eiger. Er hinterließ dabei ein eher kleines Loch. Und seitdem strahlt am 29. November und am 16. Januar gegen halb eins mittags die Sonne nicht nur auf die reformierte Kirche des Gletscherdorfes, sondern auch auf die Bäckerei »Wüthrich«, deren Name nicht auf die Taten des Helden zurückgeht, die aber selbstredend Sankt-Martins-Ringli herstellt. Hübscher ist der Lichtkegel in den Glarner Alpen anzuschauen. Der erscheint nämlich vor Sonnenaufgang und strahlt ebenfalls durch ein Martinsloch, justament auf das Elmer Gotteshaus. Dann verschwindet die Sonne wieder für eine Viertelstunde hinter den Bergen, bevor sie endgültig aufgeht. Hinter dem Dorf Elm bewegt sich der Lichtkegel bis zum Sonnenaufgang wie ein Suchscheinwerfer weiter, und zwar mit bis zu 32 Zentimetern pro Sekunde.
Eine der schönsten Landschaften ist sicherlich der »Festsaal der Alpen«, wie der leidenschaftliche Wanderer und Bergsteiger Walter Flaig einmal das Oberengadin bezeich nete. Eine Gegend übrigens, in der man in ganz normalen Lokalen für zwei durchschnittliche Pizza plus zwei Halbe durchaus mal stramme 50 Euro hinblättert.
Bei unserem ersten Besuch im Oberengadin standen auf der Dringlichkeitsliste ganz oben: Piz Languard, Munt Pers, Piz Ot. Diese drei Gipfel im Festsaal stehen nämlich in den Wanderführern ebenfalls ganz oben – Pflichtveranstaltungen für Neulinge sozusagen. Der Piz Ot ist für hartgesottene Alpinwanderer, die gerne auch einmal einen Felsen in die Hand nehmen. Auf dem Piz Languard trifft man schon mal Familien mit sportlichen Kindern, schließlich kann man bis zur Alp Languard mit der Seilbahn fahren, hat aber dann immer noch 900 Höhenmeter vor sich, einen angenehmen Marsch durch ein Hochtal und einen kernigen Aufstieg bis zu Georgy’s Hütte, der höchstgelegenen Hütte des Kantons Graubünden. Die Unterkunft befindet sich neunzig Meter unterhalb des Gipfels, weshalb der Languard ein Berg ist, der bei Sonnenaufgangsfetischisten extrem beliebt ist. Außerdem befindet sich dort laut Eigenwerbung eines Tou rismusverbandes das größte Steinbockgebiet der Schweiz. Was hoch gelegene Alpenhütten betrifft, wird Georgy’s Hütte locker von der Mönchsjochhütte getoppt, die damit wirbt, die höchstgelegene bewartete Berghütte der Welt zu sein. Mit 3657 Metern ist sie wohl auch der höchste Punkt der Alpen, den man als Wanderer erreichen kann – von der Bergstation der Jungfraujochbahn erklimmt man die Hütte innerhalb von einer Stunde auf einer breiten Spur über den Aletschgletscher. Wobei die Mönchsjochhütte eigentlich Ausgangspunkt ist für die Besteigung diverser Viertausender. Deutlich über 4000 Metern Höhe, auf dem Gipfel der 4554 Meter hohen Signalkuppe im Monte-Rosa-Massiv, liegt die Capanna Regina Margherita, ein alpines Schutzhaus und das höchst gelegene Gebäude Europas, das allerdings dem Normalwanderer verwehrt bleibt.
Der Munt Pers schließlich, den wir uns als dritte Pflicht wanderung bei unserer Engadin-Premiere ausgesucht hatten, ist ein typischer »Latsch-Dreitausender«, den man notfalls auch mit Sandalen besteigen kann. Wobei hier bereits ein Hinweis darauf ergehen soll, dass uns auf dem Weg zur Orgelspitze in Südtirol ein Mann in den besten Jahren entgegenkam, der sich nur mit einem Lendenschurz zum Gipfel aufmachte, barfuß übrigens. Mehr dazu später!
Gegen den Touristen-Dreitausender Munt Pers ist gar nichts einzuwenden, Geheimtipps dagegen muss man sich erarbeiten, indem man sich auf langwierige Gespräche mit Einheimischen einlässt, die einem dann beim Bier oder Grappa entlegene Gipfel verraten und diese auf ihrer Wanderkarte aus dem frühen 14. Jahrhundert mit dem Finger umkreisen. Außerdem ist die Aussicht von Piz Languard und Munt Pers einzigartig, keine anderen Berge bieten eine solch prächtige Sicht auf die Berninagruppe. Der Piz Languard ist quasi der Kronleuchter des Festsaals, der Munt Pers der Logenplatz. Dass die Berge so beliebt sind, ist also kein Wunder, beim Munt Pers kommt erleichternd hinzu, dass man bis Diavolezza (2973 Meter) mit der Seilbahn fahren kann. Es bleiben also sage und schreibe dreihundert Höhenmeter bis zum
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