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Die Wanderbibel

Titel: Die Wanderbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Kehle , Mario Ludwig
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einem Hirschhorngriff versehene Hartholzstäbe, geschmückt mit unzähligen Stocknägeln, handelte, haben moderne, ultraleichte Teleskoptrekkingstöcke so gar nichts mehr gemein. Die ausziehbaren Stöcke erfreuen sich in den letzten Jahren bei den gesundheitsbewussten deutschen Wanderern größter Beliebtheit, da ihr Einsatz – folgt man der These zahlreicher Orthopäden – beim Bergablaufen die Kniegelenke um mehrere Tonnen entlasten soll. Einige der aus Aluminium oder Karbon gefertigten Wunderwerke der Technik sind von ihren Herstellern sogar mit einem ein- und ausschaltbaren schockabsorbierenden Dämpfungssystem ausgestattet worden.
    Der italienische Wanderer blickt dagegen mit Abscheu auf Wanderstöcke aller Art. Schon der Gedanke, ein Hilfs mittel zu benutzen, das bei oberflächlicher Betrachtung an einen Kranken- oder Blindenstock erinnert, lässt den italienischen Wandersmann bis ins Mark erschauern. Sollen ihn seine Mitmenschen und vor allem die Signoras und Signorinas etwa für schwächlich, krank oder gar gehbehindert halten? Das wäre freilich nicht auszudenken! Nein, ein wie auch immer gearteter Wanderstock ist nichts für einen echten italienischen Mann!
    Andere Länder andere Sitten: So traf ich vor einigen Jahren beim Abstieg vom Hohen Rad, einem wunderschönen Aussichtsberg in der Silvretta, im kniehohen Tiefschnee auf ein älteres englisches Paar, bei dem der männliche Part rein äußerlich alle Klischees vom splee nigen Upper-class-Engländer erfüllte: Dunkelblauer Blazer mit Wappen und Einstecktuch, hellblaues Baumwollhemd sowie eine Stoffhose, an der nur noch ein kärglicher Rest der sicherlich frühmorgens noch messerscharfen Bügelfalten zu erkennen war. Die Füße des Gentleman steckten – Ehrenwort (!) – in beigen Leinenhalbschuhen. Auf dem Kopf trug der ältere Herr einen sogenannten »Boater«, also jenen kreisrunden Strohhut mit Krempe, der seit Hunderten von Jahren zur Sonntagsausstattung des englischen Gentleman gehört und ein unverzichtbares Accessoire bei sommerlichen Bällen und Tanzveranstaltungen ist.
    Nach ein wenig Smalltalk beantwortete ich die Frage des wackeren Briten, wie weit es denn noch zum Gipfel sei (anderthalb Stunden), wies ihn aber zugleich mit aller Höflichkeit darauf hin, dass seine Kleidung wohl nicht ganz angemessen für die Besteigung eines schneebedeckten Fast-Dreitausenders sei. Der doch schon etwas ramponierte Sohn Albions bedankte sich bei mir höflich für den wertvollen Hinweis, erklärte mir aber, dass er voll auf seinen Londoner Herrenausstatter vertraue, der sein Outfit als »für die Berge völlig ausreichend« eingestuft hatte, und setzte seinen Gipfelsturm samt Begleitung ungerührt fort.
    Um aber wieder auf unseren italienisch-deutschen Ver gleich zurückzukommen: Natürlich sind auch die Tagesziele der beiden äußerlich so unterschiedlichen Wande rer nur in den seltensten Fällen die gleichen. Der deutsche Wanderer nutzt seinen Urlaub, um Gipfel zu sammeln – möglichst schnell und um jeden Preis. Und so ist der Gipfelsturm für den deutschen Wandersmann eine ernste Angelegenheit, die zu einem schweißtreibenden Wettbewerb ausarten kann, denn überholen lässt sich der Teutone auf seinem Weg zum Gipfel nur ungern. Nähern sich also »von unten« weitere Wanderer, wird das Tempo zunächst einmal straff angezogen, um die nachrückende Konkurrenz auf geziemendem Abstand zu halten. Die Nachrücker – natürlich nur wenn es sich um Deutsche handelt – drücken dann ihrerseits aufs Tempo, gibt es doch nichts Schöneres, als an einem steilen Hang an einem völlig ausgepumpten Konkurrenten mit einem scheinheiligen »Berg Heil« auf den Lippen vorbeizuziehen. In den erbittert geführten Kampf wird meist die ganze Familie mit einbezogen. Und so hört man dann häufig japsend und mit hochrotem Kopf vorgetragene Anfeuerungsrufe wie etwa »Mutti, nicht nachlassen!«, mit denen auch der Ehefrau die letzten Energiereserven abverlangt werden. Bei den unterlegenen Familien (meist wird relativ rasch die Gattin als Schuldige identifiziert) hängt dann für die nächsten zwei Stunden der Haussegen schief.
    Einen Italiener dagegen stört es nicht, wenn er überholt wird. Wie sollte er auch? Zum einen liegt ihm jeder Konkurrenzgedanke fern, und zum anderen registriert er den Überholvorgang überhaupt nicht, zu sehr ist er in seine Lieblingsbeschäftigung vertieft: Telefongespräche mit dem Handy zu führen, stundenlang und ununterbrochen. Mein Italienisch ist

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