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Die Wanderbibel

Titel: Die Wanderbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matthias Kehle , Mario Ludwig
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viel zu schlecht, um zu beurteilen, wer da wem was dringend und in einer un glaublichen Lautstärke (»Mama«, »ècco«, »pronto«, »cretino«, »stronzo«) mitteilen muss. Aber wahrscheinlich wäre es für einen psychologisch geschulten Ethnologen eine dankbare Aufgabe herauszufinden, woher dieses fernmündliche Mitteilungsbedürfnis unserer italienischen Freunde herrührt und warum sie es ausgerechnet an einem Sonntagnachmittag in den Bergen ausleben müssen.
    Übrigens: Als Grundausstattung führen italienische Wanderer zumindest zwei Handys mit sich, daher ist der Anblick »stereo« telefonierender Italiener in den Dolomiten keine Seltenheit.
    Hat der deutsche Alpinist den Gipfel erreicht, werden zunächst die obligatorischen Erinnerungsfotos geschossen und dann hastig die am frühen Morgen in der Pension geschmierten Stullen hinuntergeschlungen. Danach wird voller Stolz per SMS der Gipfelerfolg und die dafür benötigte Zeit ausgewählten, zu Hause in Wanne-Eickel verbliebenen Bergfreunden mitgeteilt. Und natürlich darf auch nicht der Eintrag ins häufig vorhandene Gipfelbuch fehlen. Dann geht es aber bereits wieder an den Abstieg, soll doch die gesamte Tour in einer Zeit zurückgelegt werden, mit der man sich vor den anderen Pensionsgästen nicht blamiert.
    Der italienische Wanderer möchte keinen Gipfel erklimmen und schon gar nicht in Rekordzeit. So kehrt er meist im ersten auf dem Weg liegenden Refugio (bewirtschaftete Schutzhütte) ein, um dort seinen vom viertelstündigen Aufstieg ansehnlich angeschwollenen Durst mit einem kühlen Glas Frascati zu löschen. Anschließend stärkt er sich mit für einen Römer, Mailänder oder Turiner so gewöhnungsbedürftigen Gerichten wie etwa »Piatto misto di wurstel con krauti« (Gemischte Wurstplatte mit Sauerkraut) oder »Canederli in brodo« (Tiroler Speckknödelsuppe).
    Im Anschluss legt er sich auf eine nahe Almwiese, sonnt sich oder hält eine ausgiebige Siesta. Am Erreichen des Gipfels ist der italienische Bergfreund, wie gesagt, nicht interessiert, bieten doch Refugio und Umgebung alles, was sein Herz begehrt. Wozu sich also unnötig anstrengen, Muskelkater und Transpiration riskieren, das kann man doch getrost diesen verrückten, engstirnigen und obendrein auch noch schlecht gekleideten Tedesci überlassen.

2 Komödienschauplatz Berg
    Dreitausender für alle
    Wo in den Alpen ist es am schönsten? Auf dem Nebelhorn im Allgäu? In Zermatt am Fuß des Matterhorns? Oder rund um die in den Berner Alpen gelegene Jungfrau, die viele Menschen – nicht nur Männer – für einen höchst wohlgeformten Berg halten und die von allen Seiten, vom Männlichen, vom Tanzbödeli, von der Kleinen Scheidegg, von der Großen Scheidegg, aus bestaunt wird?
    Wenn man zum ersten Mal eine unbekannte Gegend aufsucht, hält man sich an die Wanderziele, die in den einschlägigen Führern stehen. Oder man hat einen Chef im Ruhestand oder alten Onkel, der vor einigen Jahrzehnten hier und dort Berge bestiegen hat. Dieser erinnert sich und erzählt Geschichten von einsamen Gipfeln in schönen Gegenden, auf die heute eine Seilbahn führt oder von Fast-Abstürzen an der einzigen Stelle der Alpen, an der man von der Südwand in die Nordwand purzeln kann. Nämlich weil ein riesiges Felsenfenster den Berg durchbricht, wie am slowenischen Zweieinhalbtausender Prisojnik, auf den man südseitig vom Vr š i č -Pass aus wandern kann. Einige Hundert Meter unterhalb des Gipfels klafft ein Loch im Berg, groß wie eine mittlere Kathedrale. Ob jemals jemand beim Besteigen des Prisojniks tatsächlich aus der Südwand in die Nordwand gestürzt ist, weil er sich zu weit aus dem Felsenfenster gelehnt hat, ist nicht bekannt. Vor allem aber kann man heute auf Berge steigen, die dem uralten Onkel vor fünfzig Jahren verwehrt geblieben sind, da sie noch von Gletschern geziert wurden.
    Felsenfenster, von denen der Prisojnik sogar gleich zwei hat, gibt es übrigens in den Alpen nicht wenige. Zwei hat die Natur in der Zentralschweiz angebracht, und zwar just an den Stellen, durch die an wenigen Tagen im Jahr die Sonne auf Kirchen strahlt, weshalb die Löcher im Schweizer Bergkäse den Namen des heiligen Sankt Martin erhalten haben. Eines der Martinslöcher ist am Ostteil des Eigers eingebaut – Gott sei Dank nicht in der Eigernordwand, sonst wären sicher einige leichtsinnige Nordwandgeher in der Südwand zu Tode gekommen. Es geht die Sage, dass die Grindelwalder einst immer wieder durch herabstürzende Eis-

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